Das Kunstmuseum Stuttgart, ein typischer Tempel zeitgenössischer Kunst: viel Glas, weiße Wände, schlichte dunkle Böden, wenig Werke. Kontemplativ und zurückhaltend. Doch je länger ich mich auf die stille Kunst von Wolfgang Laib einlasse, desto mehr verwandelt sich das Reduzierte in Emotionales. Die Arbeiten kriechen mir unter die Haut, schleichen sich in mein Seelenkostüm. Und dann der Duft: nach Wachs, nach Reis. Kontrapunktisch zur strengen Formation öffnen sich alle Sinne, um die vielschichtige Stille einzufangen.
Aus der Zeit gefallen
Die Ausstellung im Stuttgarter Kunstmuseum ist sehenswert, erlebenswert. Wolfgang Laib feiert die Schönheit und die Kunst. Es geht ihm nicht ums Verstehen: Ein Werk, das erklärt werden muss, ist ihm verdächtig. Das Effekthaschende, Laute ist ihm fremd. Das Hochleben der Individualität unserer westlichen Gesellschaft empfindet er als Sackgasse, das Stakkato der zeitgenössischen Kunst, die im Minutentakt in den Kunstmarkt geworfen wird – immer neu, laut rufend, nach Effekten haschend – ist nicht seins. Und damit bleibt er sich selbst treu, seit nun rund fünfzig Jahren seines Kunstschaffens mit Materialien aus der Natur.
Laib ist Kunst das Wichtigste, es ist ihm alles – so sagt er selbst im Dokumentarfilm, der während der Ausstellung in Stuttgart zu sehen ist. Gleichzeitig verweigert er sich dem zeitgenössischen Kunstbegriff, dem Getriebensein und dem intellektuellen, rationalem Herangehen. Das Holistische ist zentral in seinem Werk, ebenso das Zeitlose.
Seine Meinung: Kunst, die den Augenblick einfängt, ist nutzlos – Momentaufnahmen können Journalisten und Politiker besser vermitteln. Um groß und relevant sein zu können, muss Kunst überdauern, sie muss Menschen in der Zukunft genauso ansprechen können, wie im Jetzt oder in der Vergangenheit. Wohl auch deshalb hat seine Kunst etwas Archaisches, sie hätte auch vor vielen Jahrhunderten geschaffen sein können und würde uns heute noch berühren. Er empfindet das Rufen nach ständiger Weiterentwicklung und Neuerfindung der Kreativität als sinnlos. Warum nicht immer wieder auf das gleiche Material zurückgreifen, eine Idee immer und immer wieder aufgreifen, bearbeiten, variieren?
Die Welt in einem Reiskorn
Seine Werke können Ausgangspunkt für meditative Gedanken sein. Sie sind respektvoll – gegenüber der Natur, aber auch der Kulturgeschichte der Menschheit. Anklänge an östliche Traditionen sind immer spürbar.
Der Begriff Minimalismus dringt sich auf, greift hier aber zu kurz. Vermutlich, weil er bereits ein vorgefertigtes Feld an kunstgeschichtlichen Assoziationen öffnet, westlichen wohlgemerkt. Für mich hat seine Kunst dagegen etwas sehr Östliches. Ich denke an die Meister des Zen, die mit ihren Rechen den Sand zu Formen harken. Auch das passt zu seiner Anschauung, dass wir nur Teil eines großen Ganzen sind. So wie sich in den Zen-Gärten das Universum spiegelt, spiegeln sich in seinen Arbeiten die ganz großen Themen des Lebens, das Werden und Vergehen, unsere Existenz. Das Kleine im Großen, der Makrokosmos im Mikrokosmos, das Leben tausendfach reflektiert in jedem einzelnen Reiskorn, jedem Blütenpollen.
Werke aus und mit der Natur
Laib schafft seit Jahrzehnten mit den immer wieder gleichen Naturmaterialien, vor allem Stein, Reis, Bienenwachs, Blütenstaub und Milch. Diese werden in Werkzyklen zu Kunst transformiert und weiter entwickelt. Im Folgenden ein paar Schlaglichter auf in Stuttgart gezeigte Werkgruppen.
Blütenpollen, leuchtend
Sonnenlicht, in Materie transformiert: So empfinde ich seine Blütenstaubfelder. Je länger man sie anschaut, desto mehr senden sie eine flirrende Energie aus. Natürlich sind die Farben, die leuchtenden Gelbtöne, einer der Gründe. Doch da ist mehr. Ein inneres Leuchten, eine ätherische Schönheit, die gleichzeitig sehr geerdet ist, die vom Leben und der Natur erzählt. Und auch vom geduldigen Zusammentragen der Pollen, die Laib – abhängig von den Jahreszeiten – in seiner oberschwäbischen Heimat mit einem Kaffeebecher sammelt. In diese Menge an Blütenstaub müssen unzählige Stunden des Umherstreifens in der Natur geflossen sein. Ich frage mich unwillkürlich, wie die Bienen den Pollen in der Nahsicht wahrnehmen, wenn sie geduldig Blüte für Blüte anfliegen.
Dunkel und hell, fest und flüssig, dauerhaft und vergänglich
Seine ältesten Arbeiten haben mit Steinen zu tun: 1972 erschaffte er nach einem Aufenthalt in Südindien aus einem dunklen, Millionen Jahre alten Findling mit Hammer und Meißel seinen ersten eiförmigen „Weltenstein“ oder auch „Kosmisches Ei“ (Brahmanda) – und traf kurz darauf die Entscheidung, nicht als Arzt, sondern als Künstler zu arbeiten. Seitdem sind etliche weitere dieser Ei-Steine entstanden.
Ein weiterer Werkzyklus, mit dem Laib Mitte der 70er Jahre begann und den er bis heute fortsetzt, sind seine Milchsteine: weiße, rechteckige Marmorobjekte, deren Oberfläche er kaum sichtbar (auch hier in wochenlanger Handarbeit) um wenige Millimeter vertieft, sodass nur eine schmale Wölbung am Rand verbleibt. Die Vertiefung wird mit Milch aufgefüllt, es entsteht eine seidig-glänzende Oberfläche. Eine Symbiose, die an das Ying-Yang-Prinzip erinnert, kaum zu beschreiben ist, und zur Kontemplation einlädt.
Korn an Korn
Seine Arbeiten mit Reis begann Laib in den 80er Jahren. Reis ist Grundnahrungsmittel für viele Menschen, steht für die Notwendigkeit, Nahrung zu finden. Oft kombiniert er ihn mit Häusern, zeigt auf, dass Schutz und vielleicht auch Heimat ein weiteres menschliches Grundbedürfnis sind. Zudem verweist er mit den sargähnlichen Formen auf das Ende.
Die Häuser sind abstrahiert, ihre Formen, Farben- und Materialsprache (rund und eckig, rot, weiß oder rotschwarz bemalt, mit Lack oder dünnem Weißblech überzogen) kann sowohl aus der westlichen wie der östlichen Welt entnommen sein. Auch das passt zum ganzheitlichen Denken, zum Zusammenführen verschiedener Lebenswelten – genauso selbstverständlich wie Laib sowohl im beschaulichen Schwäbischen, in Südindien und in New York lebt. Dazu lassen die Reishaufen Bezüge zu spirituellen Opfergaben entstehen, gerade im ersten Raum im 3. Stock, wo Tausende davon rasterförmig platziert sind.
Golden und duftend
Bienenwachs ist ein weiteres wichtiges Material, mit dem Laib arbeitet. Er baut daraus Objekte wie Wachsschiffe und Gebäude, verkleidet Treppen, konstruiert Zikkurats – eine Anlehnung an gestufte Tempeltürme in Mesopotamien – und baut daraus höhlenartige, begehbare Räume. Insgesamt neun Wachsräume gibt es bisher weltweit, einer davon im Untergeschoss des Stuttgarter Kunstmuseums. Manche dieser Arbeiten sind rätselhaft, andere laden ein zum Auf-Reisen-Gehen oder Eintauchen in ein sinnlich-duftendes Erlebnis. Andere Welten als die uns vertrauten.
Zum Künstler Wolfgang Laib: die Welt heilen
Laib ist mit der Kunst groß geworden. Im Film erzählt er von seinem kunstaffinen Elternhaus, den Reisen zu europäischen Kunstwerken und nach Asien. Davon, dass es zunehmend um Reduktion ging, irgendwann kaum noch Möbel da waren, nur Kunst und die umgebende Natur. Diese Prägung zieht sich sichtbar durch den gesamten Film, scheint sich tief eingeschrieben zu haben, ist Teil seines Seins und seines Kunstschaffens.
Eine andere elterliche Prägung: die Medizin. So studiert Laib wie seine Eltern Medizin in Tübingen, beendet sein Studium, doch entscheidet sich kurz danach für die Kunst. Er hat das Gefühl, dass das Heilen und Ganzwerden mittels Kunst weitaus besser gelingt als mit den Mitteln der westlichen Medizin.
Seine Affinität zur östlichen Kultur und zum übergreifenden Wissen zeigt sich auch bereits als Student: Parallel zu den Vorlesungen der Medizin ist er Gasthörer in Philosophie, Psychologie, Archäologie, Kunstgeschichte und orientalischer Philosophie, studiert dann parallel Indologie, lernt Sanskrit, Hindi und Tamil.
Laib ist einer der bekanntesten deutschen Künstler. Zweimal hat er an der Documenta in Kassel teilgenommen, war im Deutschen Pavillon der Venedig-Biennale vertreten. Er hat weltweit ausgestellt, in großen Häusern wie dem Museum of Modern Art in New York, der Foundation Beyeler in der Schweiz, dem National Museum of Modern Art in Tokyo oder dem Haus der Kunst in München. Er ist Preisträger des „Praemium Imperiale“, der auch als Nobelpreis der Kunst bezeichnet wird.
Er ist stolz darauf, ohne seine Bodenhaftung zu verlieren. Er ist keiner, der viel Aufhebens um sich macht. Schließlich ist er „nur teilhabend an etwas viel Größerem“, wie er selbst sagt. Lieber pendelt er weiter zwischen den Welten, sammelt am Ende der Ausstellungen wieder seine kostbaren Materialien ein und schafft dann damit die nächsten Kunstwerke. Ein ewiger Kreislauf wie das Leben.
Fazit
Laib hat den Anspruch, dass Kunst, seine Kunst die Welt verändert. Sie weitet den Raum, fast wie ein Blick in einen Spiegel, in dem sich ein Spiegel spiegelt. Sie kann eine alternative Realität vorschlagen und uns damit zeigen, was sein könnte: etwa Ganzes, Schöneres, Heiles. „Unglaublich“ das ist eines der Wörter, die er in dem Film am meisten benutzt. Staunen über die Natur, der respektvolle Umgang mit ihr und ihren Ressourcen, Achtsamkeit, Demut, Hingabe, Geduld – das sind zentrale Aspekte in seinem Schaffen. Und wenn er uns bewegen kann, innezuhalten und genau das auch zu sehen, die Essenz und gleichzeitig das große Ganze: Ja, dann kann Kunst wirklich die Welt verändern.
PS: Laibs Œuvre lässt mich an die ersten Zeilen des berühmten Gedichtes „Auguries of Innocence“ von William Blake denken (To see a World in a Grain of Sand / And a Heaven in a Wild Flower / Hold Infinity in the palm of your hand / And Eternity in an hour […] oder, in freier deutscher Übersetzung: „Wer sieht die Welt in einem Körnchen Sand / den Himmel im Blumenbunde / der hält Unendlichkeit in seiner Hand / und Ewigkeit in einer Stunde“)
„Wolfgang Laib – The Beginning of Something Else„
17. Juni bis 5. November 2023
Kunstmuseum Stuttgart, Kleiner Schlossplatz 1
10.00 bis 17.00 Uhr, Freitag bis 20 Uhr, Montag geschlossen
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Liebe Dagmar, kurz vor dir habe ich auch die Ausstellung besucht. Dort in der Stille verharrt, den Emotionen Raum gegeben.
Laibs Aspekt der Heilung durch Kunst nachgesonnen, sie teils sogar empfunden. Etwa im Wachsraum unten, oder besser in seiner Wachshöhle, das tiefe Empfinden eines Embryos, ganz bei sich, ganz mit sich verbunden zu sein. Zu Tränen gerührt vor lauter Glück dieser Wahrnehmung.
Wie trefflich du in Worte fassen kannst wo ich sprachlos bleibe. Wunderbar. So bin ich heute noch einmal, jetzt mit dir, durch diese sehr beeindruckende Ausstellung gegangen, auf fühlenden Sohlen, behutsam, leise.
Und sogar mit etwas versöhnt oder beschenkt worden. Mit meinem Zweifel ob ich immer und immer wieder das gleiche malen darf. Ja, denn dieses kreative Tun ist Teil einer Heilung, und sei es auch nur für mich selbst. Ist Teil eines Weges zum Glück. Das Ziel heißt finden, nicht suchen.
Liebe Christa, ich empfinde dich alles andere als sprachlos, im Gegenteil: Mit deinen Worten fügst du immer noch ein weiteres Stück zu meinen Wahrnehmungen und Gedanken hinzu. Danke dir dafür.