Vergangene Woche habe ich mal wieder dem wunderbaren Städel Museum in Frankfurt einen Besuch abgestattet – zurzeit widmet sich eine Sonderausstellung dem vielfältigen Schaffen der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz (1867–1945).
Bereits in meiner Kindheit in der DDR habe ich diesen Namen häufig gehört – seine Erwähnung fiel meist zusammen mit Heinrich Zille, Rosa Luxemburg und August Bebel. Im Westen dann war sie mir lange Zeit weniger präsent. Persönlich wiederentdeckt habe ich die Künstlerin vor einigen Jahren beim Besuch des Käthe-Kollwitz-Museums in Köln und war dort sehr berührt von ihren Druckgrafiken und vor allem eindringlichen Skulpturen. Nun also eine Ausstellung in Frankfurt. Ich freue mich und bin gespannt.
Vollmundig sprechen die Macher von der „berühmtesten Deutschen Künstlerin der Moderne“. Ich bin keine Freundin solcher Superlative und frage mich immer, wer diese Aussage wohl getroffen hat (und auf welcher Basis). Warum muss es immer die größte, bekannteste, beeindruckendste oder einzig wahre Attraktion sein, um zu überzeugen? Abgesehen davon, bin ich noch nicht mal sicher, ob diese Aussage gilt – da fallen mir spontan Paula Modersohn-Becker, Gabriele Münter oder Lotto Reiniger ein, die Kollwitz vermutlich den verliehenen Titel streitig machen könnten. Sei’s drum.
Im Ausstellungshaus
Auf den Weg zu den Räumen der Sonderausstellung bleiben meine Blicke immer wieder an Kunstwerken der großartigen Sammlung des Museums hängen. Hier könnte ich Tage verbringen. Aber meine Zeit ist begrenzt, also weiter geht’s zum Ausstellungshaus. Die Kollwitz-Ausstellung erstreckt sich über zwei Etagen – für den ersten Teil muss ich der Treppe in das Untergeschoss folgen.
Die Räumlichkeiten sind – ganz ungewohnt – gegen den Uhrzeigersinn zu begehen, was ich erst nach einigen Minuten realisiere. Ich finde es aber nicht schlimm, manchmal eröffnet das gegen den Strich Gebürstete neue Perspektiven. Und es hat den Vorteil, dass ich damit kontrazyklisch zum großen Pulk von Menschen bei der Führung laufe. Und beim zweiten Rundgang, diesmal richtig herum, sieht alles nochmal anders aus.
Eine beeindruckende Biografie
Die Ausstellung ist toll gehängt, das vorab. Mir gefällt vieles, sehr vieles. Mich beeindruckt die Kunst – die Zeichnungen, Grafiken und Skulpturen – und vor allem die Künstlerin. Welch moderne Frau, auf so vielen Ebenen. Eine Frau aus einem bürgerlichen Umfeld. Sie wächst in einem humanistisch und sozial geprägten Elternhaus auf, das die künstlerischen Ambitionen seiner Tochter unterstützt und ihr ein Kunststudium in Berlin und München ermöglicht. Zu einer Zeit, in der es alles andere als selbstverständlich ist, dass Frauen Kunst studieren und anschließend – so wie Kollwitz – sogar als freischaffende Künstlerin arbeiten.
Ihr Vater ist enttäuscht, als die Tochter dann heiratet – weil er sich nicht vorstellen kann, dass Kunst und Eheverpflichtungen gleichzeitig zu stemmen sind. Doch Kollwitz belehrt ihn eines Besseren: Sie ist Ehefrau – in einer gleichberechtigten Ehe mit ihrem Mann, einem Arzt – Mutter zweier Söhne und Künstlerin. 1907 erhält sie den Villa-Romana-Preis und hält sich mehrere Monate in Florenz auf. 1912 wird sie in den Vorstand der Berliner Secession, 1919 als erste Frau in die Preußische Akademie der Künste gewählt und zur Professorin ernannt. 1928 übernimmt sie die Leitung des Meisterateliers für Grafik an der Akademie der Künste, 1929 wird ihr als erste Frau der Orden „Pour le Mérite“ für Wissenschaft und Künste verliehen.
Solch ein künstlerischer Lebenslauf ist an sich schon erstaunlich, als Frau zu dieser Zeit jedoch nahezu unglaublich.
Eine mutige Entscheidung
Obwohl sie ausgebildete Malerin ist und gerade beginnt, damit erfolgreich zu werden, entscheidet sich Käthe Kollwitz, zunächst ausschließlich Druckgrafik zu machen – und das, obwohl dies zum einen Männerdomäne ist, und sie sich zum anderen die Technik fast ausschließlich autodidaktisch beibringen muss. Das braucht eine riesige Portion Mut, den noch nicht mal ihre männlichen Künstlerkollegen aufbringen – selbst diejenigen, die druckgrafisch tätig und dafür anerkannt sind, sind gleichzeitig auch Maler.
Das Moderne in Kollwitz‘ Kunst
Auf den ersten Blick wirkt Kollwitz‘ Kunst realitätsnah und klassisch. Beschäftigt man sich näher mit ihr, zeigt sich, wie modern ihre Themen und Techniken sind.
Drucktechnik
In der Druckgrafik findet sie einen sehr eigenen Weg der künstlerischen Umsetzung. Zeichenmittel und Bildträger sind sehr ungewöhnlich, ihr Arbeiten oft experimentell und prozessorientiert. Sie mischt verschiedene Drucktechniken, benutzt unübliche Materialien zum Bearbeiten und Aufrauen der Oberflächen.
Formensprache und Komposition
Ungewöhnlich sind dabei auch ihre Perspektiven: Mit extremer Nahsicht rückt sie ihre Aussage in den Mittelpunkt, häufig fehlt der Hintergrund wie eine Landschaft, weil diese von der zentralen Aussage ablenkt. Licht und Schatten werden oft sehr betont, Perspektiven akzentuiert, Bewegungen und Bewegungsrichtungen verstärkt – ein Mittel, das sich später auch in ihren Plastiken findet und diese damit aus meiner Sicht besonders emotinanal ansprechend macht. So gibt es beispielsweise Skulpturen von Mutter und Kind, Mensch und Tod, die so ineinander verschlungen sind, dass der Betrachtende nicht weiß, wo der eine Körper aufhört und der andere beginnt.
Arbeitsprozess
Ihr Druckprozess ist langwierig: Sie macht zahlreiche Skizzen und Vorstudien, plant ihre Kompositionen, überarbeitet ihre Druckplatten immer wieder, bis sie ihren Ansprüchen genügen und sich mit der gewollten Aussage decken.
Das ist in der Ausstellung wunderbar zu sehen: So ist eines der 7 Blätter aus dem berühmten Radierzyklus „Bauernkrieg“ in verschiedenen Arbeitsstufen ausgestellt. So lässt sich nachvollziehen, in welchen Schritten sich der Prozess bis zur endgültigen Druckplatte vollzogen und welche künstlerischen Entscheidungen Kollwitz getroffen hat. So wird der anfänglich vorhandene Gevatter Tod aus dem Geschehen entfernt, um der Hauptfigur, die „Schwarze Anna“, zu mehr Selbstbestimmtheit zu verhelfen. Im endgültigen Blatt schaut sie mit offenen Augen geradeaus und ihre Hand liegt zentral und selbstbewusst auf der Sense, die sie wetzen will (auch wenn der Titel von „dengeln“ spricht). Eine Protagonistin, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt.
Motive
Die Künstlerin hat einen kritischen, ehrlichen Blick auf die Welt. Das sieht man besonders gut bei ihren Selbstbildnissen, Portraits und den zahlreichen Aktzeichnungen. Da werden schonungslos Falten und Augenringe gezeigt, dicke Bäuche und hervorstehende Knochen. „Das Schöne ist das Hässliche“ – so zitiert Kollwitz selbst Emil Zola.
Kollwitz ist belesen, kennt sich in Literatur, Theater und Kunstgeschichte aus. Sie verehrt Rodin, verortet sich in der künstlerischen Tradition, baut immer wieder Referenzen ein und transportiert die Quellen und Sujets in die moderne Zeit. Besonders gut zu sehen ist das bei dem Triptychon, das auf das christliche Motiv der Pieta verweist, und gleichzeitig eine sehr eigene, zeitgenössische Interpretation erhält.
Kollwitz hat einen weiblichen Blick auf die Gesellschaft und Mensch- und Muttersein – auch das ist sehr modern. Gleichzeitig bearbeitet sie keine typisch weiblichen Themen und Motive wie Stillleben und Landschaften, sondern die großen Themen: Menschsein, Liebe, Trauer, Gesellschaft, Krieg. Auch das zu ihrer Zeit sehr ungewöhnlich.
Eine selbstbewusste, selbstbestimmte Frau
Kollwitz geht ihren Weg, hat eine eigene Meinung und vertritt diese auch nach außen. Sie macht sich für Künstlerinnen stark. Aber sie lehnt es ab, diese zu bevorzugen, wenn nicht auch die ästhetische und künstlerische Qualität deren Arbeit überzeugt. Sie engagiert sich sozial, ist politisch – aber weigert sich, sich von einer Partei instrumentalisieren zu lassen. Der Mensch, das Menschliche und Soziale sind ihr wichtig, nicht das Parteiprogramm. Sie ist Pazifistin, der jüngere Söhn Peter fällt im Ersten Weltkrieg. Sie ist eine Bürgerliche und macht sich gleichzeitig für soziale Gerechtigkeit stark, nimmt die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ins Visier und macht schonungslos und unermüdlich auf Missstände aufmerksam. Sie unterzeichnet 1932 den „Dringenden Appell“ gegen die Wahl der Nationalsozialisten – ihr Mut kostet sie ihren Platz in der Akademie.
Warum ist Ehrlichkeit so schwer zu ertragen?
Während meines Rundgangs echauffiert sich ein Besucher laut, dass Kollwitz wohl ein zutiefst unglücklicher Mensch gewesen sein muss – man sehe ja nur Verzweiflung, Dunkelheit, Schmerz und keine Farben oder gar lachende Gesichter. Gerade zu diesem Zeitpunkt sitze ich vor dem Triptychon, bei dem eine der Protagonistinnen einen Mundwinkel nach oben zieht. Ich muss erst etwas schmunzeln, dann denke ich über die Aussage nach.
Ist das wirklich so? War Kollwitz unglücklich? Und warum bringen die Werke jemanden dermaßen auf die Palme? Ist es der weibliche Blick? Oder der ehrliche? Sind Kunst und das Œvre gleichzusetzen? Das wäre so, als würde man Kriminalautoren bezichtigen, selbst Morde zu begehen. Kollwitz hat zum Beispiel auch erotische Zeichnungen gemacht, Liebespaare gezeichnet und besonders häufig Mutter und Kind. Und in ihren Tagebüchern zeigt sich wohl auch eine andere Seite von ihr: Ein Mensch, der sich nicht nur sozial engagiert und für die Welt interessiert hat, sondern der auch gern feierte, der eine glückliche, liebe- und freudvolle Großmutter war.
Fazit
Käthe Kollwitz war eine moderne, leidenschaftliche, experimentierfreudige Künstlerin mit besonderen Themen und Techniken. „Eine Gabe ist eine Aufgabe“ – nach diesem Spruch ihres Großvaters hat sie gelebt. Die Facetten ihrer Person und ihrer Kunst werden in der Ausstellung aufs Beste beleuchtet. Gelungen finde ich auch die Verortung in den Zeiten und – im oberen Stock – das Aufzeigen der kulturpolitischen Vereinnahmungen in Ost- und Westdeutschland. Kunst wirkt. Und die Kunst von Kollwitz ist unvermindert aktuell und berührt tief. Die Ausstellung ist unbedingt lohnenswert.
„KOLLWITZ“
Rund 110 Arbeiten auf Papier, Plastiken und frühe Gemälde
20. März bis 9. Juni 2024
Städel Museum, Frankfurt, Schaummainkai 83
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