Mal wieder auf den letzten Drücker, aber immerhin habe ich es überhaupt noch geschafft, mir die aktuelle Ausstellung der deutschen Künstlerin Anne Imhof im Kunsthaus Bregenz anzuschauen. Impuls war die Frage einer Künstlerfreundin, ob ich Lust hätte auf eine Führung der etwas anderen Art. Kurzentschlossen sagte ich zu. Hier mein ganz persönlicher Blick auf die Ausstellung.
Die Ankündigung lautete „Kunstsalon für Frauen – ein philosophischer Abend zu den Themen der aktuellen KUB Ausstellung mit der Künstlerin Claudia Mang“. Kunst und Philosophie, eine spannende Kombination, die mich neugierig machte. Normalerweise versuche ich mich Kunst zunächst auf eigene Faust zu nähern und erst im zweiten Schritt eine Führung mitzumachen oder darüber zu lesen. Dafür war ich nun zu spät dran.
Glücklicherweise wollte Claudia Mang keine klassische Führung machen. Sondern ihre Idee war, vorab eher Impulse und nur wenige Informationen zu geben, uns in die verschiedenen Etagen zu schicken und dann erst im Anschluss miteinander das Erlebte zu besprechen. Ein Ansatz, den ich super fand.
Anne Imhof im Schnelldurchgang
Was ich also wusste: Anne Imhof ist eine zeitgenössische Künstlerin, die seit ihrer performativen Installation „Faust“ im Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2017 (für den sie den Goldenen Löwen gewann) die Kunstwelt erobert. Weltweit renommierte Institutionen wie die Tate Modern in London, der Palais de Tokyo in Paris und das Stedelijk Museum in Amsterdam haben in den letzten Jahren ihre Kunst in großen Einzelausstellungen gezeigt. Auf dem Piccadilly Circus in London wurde ihre Kunst zusammen mit Werken der US-Sängerin Patti Smith auf riesigen Bildschirmen ausgespielt. Imhof arbeitet interdisziplinär mit unterschiedlichen Medien und kollaborativ mit anderen Menschen zusammen. Bekannt ist sie vor allem für ihr (Live-)Performances, daneben macht sie Filme, Tonwerke, Installationen, Fotocollagen, Reliefs, Zeichnungen, Malerei.
Worum geht es in Imhofs Kunst?
Die Themen ihrer Kunst sind Ohnmacht und Selbstermächtigung, Gewalt, Vorurteile, Geschlechterrollen. Widerstände. Dabei leben die Werke durch ihre Unschärfen und Gegensätze. Sie erinnern oft an Kippbilder – die je nach Perspektive alt und jung, Gesicht oder Vase, schwarz oder weiß zeigen. Das, was eben noch als schön empfunden wird, fühlt sich im nächsten Moment bedrohlich oder beklemmend an, etwa die riesigen übermalten Fotomontagen von Wolken und Atompilzen.
Das hängt auch davon ab, wer die Kunst anschaut: So wurde der Raum im 1. Obergeschoss von vielen aus der Gruppe als bedrohlich und postapokalyptisch wahrgenommen, andere empfanden ihn als wärmend und befreiend. Hände: Fürsorge und Halt, aber auch übergriffig und würgend. Glasräume: Schutz oder Gefängnis. Barrieren (wie die aufgestellten stählernen Wände, die man von Konzerten kennt): Grenzen oder Verbindungen. Stelen: Richtungsweisend, wenn man davor steht, labyrinthisch, wenn man zwischen sie eingetaucht ist. Waffen: destruktiv, doch auch Zeichen der Selbstermächtigung. Spiegel: Ich oder du, Abweisung oder Immersion.
Immer wieder spiegelt sich der Gast in reflektierenden Oberflächen ausgestellter Exponate. Das Haus ist eine Bühne und ein Laufsteg, die Besucher:innen sind (unfreiwillig) diejenigen, die zum Stück beitragen. Doch statt davon reingezogen zu werden, nehme ich mit jedem Stockwerk mehr Abstand.
Anne Imhof und Billie Eilish
Ambivalenzen, wohin man blickt (und hört). Bereits der Ausstellungstitel weist darauf hin. „Gay“ kann homosexuell bedeuten, aber auch strahlend, lustig, fröhlich, heiter, lebhaft, licht. „Ich wünschte, du wärst schwul“ oder „ich wünschte du wärst gut drauf“ – nicht zwingend ein Gegensatz, aber doch möglich.
Interessant ist an dieser Stelle, dass sich auf dem ersten Album der amerikanischen Singer-Songwriterin (und Tänzerin) Billie Eilish von 2019 ein Lied mit diesem Titel befindet. Eilish bezeichnet sich selbst als queer, gilt als feministisch, das machend, was sie will. Etliche Jahre verweigerte sie sich gängigen Frauenidealen, trug lange formlose Kleidung, galt als „Ikone der Body-Positivity-Bewegung“. Dann stand sie bei einem Vogue-Fotoshooting vor der Kamera, inszenierte sich als Pin-up-Girl, brach mit der Erwartungshaltung ihrer Fans. Viele Gemeinsamkeiten zu Imhof: Musik und Bewegung, Inszenierung und Mode. Klischees brechen, Erwartungshaltungen nicht erfüllen. Und eine gehörige Portion Zeitgeistigkeit.
Der Text des Liedes hat übrigens aus meiner Sicht eine andere Konnotation „ Wish you were gay“ liest sich hier eher wie „Ich wünschte du wärst anders, dann hätte ich wenigstens eine Begründung dafür, dass du mich ablehnst.“ Ob Imhof auf das Lied referenziert, bleibt unklar – überraschend wäre es nicht.
Anne Imhof im philosophisch- gesellschaftlichen Kontext
Claudia Mangold erzählt, dass in einem Interview mit Imhof auf ihrem Tisch Literatur von Judith Butler zu sehen war. Ob inszeniert oder nicht: Verbindungen zwischen Imhofs Kunst und Butlers Denken sind schnell zu finden. Die US-amerikanische Philosophin gilt – vor allem durch ihr erstes Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ als Vorreiterin der Queer-Theorie, als feministische Wegbereiterin für die kulturwissenschaftliche Erforschung sexueller Identitäten und die Gendertheorie.
Ein Punkt von vielen: Aus ihrer Sicht wird das Geschlecht erst durch die gesellschaftlichen Zuschreibungen und das eigene Verhalten konstruiert, geprägt und konsolidiert. Geschlecht ist damit nicht fix, sondern perfomativ. Das wiederum erzeugt Machtgefälle: unsere Gesellschaft ist nicht auf solch ein fluide Spektrum ausgelegt, sondern durch ein Zwei-Geschlechter-System definiert, in dem Heterosexualität als das Normale gilt. Wer nicht hineinpasst, wird ausgegrenzt.
Interessant gerade in diesem Kontext: Die Billboards, also die großen Plakatwände in der Stadt, die auf die Ausstellungen im Kunsthaus verweisen, wurden mehrfach durch Vandalismus zerstört, das Wort „gay“ wurde herausgeschnitten. Homophobie ist offensichtlich noch immer ein schmerzhafter Teil unserer Gesellschaft. Mutmachend waren die darauf folgenden Aktionen: Unbekannte sprühten über die verletzen Stellen „tolerant“, nach dem zweiten Zerstörungsakt formte sich eine Gegendemonstration.
Imhofs Kunst im Jetzt – von innen und außen
Wir stehen heute inmitten von Katastrophen, Kriegen, Umweltverschmutzung, Fluchtbewegungen, Hass und Terror. Daneben die Nichtigkeiten glitzernder Laufstege, Influencerpostings und Bilderfluten von Hotspots – alles aufgespritzt wie die Lippen der Reichen und Schönen. Es gibt Menschen, die verhungern, und andere, die für viel Geld Kunst kaufen, um sie dann in Flughafendepots zu lagern. Uns fehlt der Respekt – vor den anderen Menschen, vor der Natur. Wir fühlen uns hilflos und einsam. Unsere Welt ist dystopisch, unsere Orientierung geht verloren. Nichts ist wie es zu sein scheint. Alle das findet sich auch im Kunsthaus Bregenz.
Doch schenkt uns diese Kunst einen neuen, anderen Blick auf die Welt, das was aus meiner Sicht die große Stärke von Kunst ist? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.
Anfang des Jahres betitelte der ndr eine Story über die Künstlerin mit „Anne Imhof: Außenseiterin an der Spitze der Kunstwelt“. Doch was macht sie zur Außenseiterin? Dass sie seit Jahren mit einer Frau zusammenlebt? Dass sie sehr jung Mutter geworden ist, Alleinerziehende noch dazu? Dass sie Boxerin ist und als Türsteherin gearbeitet hat? Bemerkenswert ja, prägend für eine Biografie ebenso. Aber wird man deshalb zur Außenseiterin? Zumal vieles von Imhofs Kunst in der Zusammenarbeit mit anderen Menschen entsteht.
Außenseiterin zu sein, lässt sich auch bewusst als Rolle einsetzen. In der Position darf man alles und muss nichts. Als Nicht-Außenseiterin Stellung zu beziehen, ist ungleich viel schwerer. Eben weil die Angst mitspielt, nicht mehr dazu zu gehören.
Viele Fragezeichen
Im Anschluss sitzen wir noch zu viert zusammen und reden über die Ausstellung. Unsere Altersspanne reicht von 16 bis 61. Die Empfindungen reichen von „ich weiß eigentlich nicht, was das Thema der Ausstellung ist“, über „Da sind Themen bearbeitet, die universell sind und nicht nur für die LGBTQIA+-Community gelten“, „ich muss darüber noch ein paarmal schlafen“, „es wirkt alles inszeniert und dem Zeitgeist entsprechend, aber irgendwie nicht authentisch“ bis hin zu „Es berührt mich nicht“. Die Ausstellung wurde angekündigt als „persönliche Bestandsaufnahme“, in einer Rezension zur Ausstellung (artline) stand „Anne Imhofs bisher persönlichste und intimste Ausstellung“. Ist sie das wirklich? Ich habe das Gefühl, es wird als ehrliche Ich-Kunst etikettiert, aber diese Zuschreibungen passieren erst im Nachhinein.
Gerade beim Lesen der zahlreichen an den Gang zum Untergeschoss gepinnten glorreichen Rezensionen stellt sich bei mir das Gefühl ein: „Ich bin zu dumm für diese Kunst“. Und weiter denke ich „Es muss alles immer politisch, konzeptionell-intellektuell sein“. Irgendwie bedienen die Ausstellung und ihre Rezensionen das übliche Klischee von „die/der (zeitgenössische) Kunstschaffende ist entweder ein verrücktes Genie oder muss zumindest politisch-sozial bewegt und intellektuell sein, um ernst genommen zu werden“.
Worüber wir auch sprechen: Warum entsteht das Gefühl, dass allgemeingültige Themen als Herausforderung für queere Menschen vereinnahmt werden? Ein Beispiel ist das Exponat, das an eine Bank in der Umkleidekabine und all die schlimmen Erinnerungen daran denken lässt. Sich als Pubertierende nach dem Sport in den Umkleidekabinen zu exponieren, kann für Heteros genauso traumatisch sein. Es gehört zum Leben, Teil einer Gruppe sein zu wollen, Angst vor dem sozialen Ausgrenzen zu haben, sich unwohl im eigenen Körper zu fühlen. Vielleicht ist auch nur der Ausstellungstitel unglücklich gewählt, weil man mit diesem alles unter diesem speziellen Fokus anschaut und bewertet. Und der wiederum ist nicht durchgängig spürbar.
Fazit
Imhofs Kunst ist zeitgemäß (auf Artfacts wird sie unter „ultra-contemporary“ geführt). Ich empfinde sie als politisch korrekt, obwohl sie provozieren und Schmerzpunkte aufzeigen will. Ich habe das Gefühl, als sei unterschwellig eine zweite Ebene vorhanden: die der Mode, der Klischees, der Selbstinszenierung. Das ist möglicherweise gewollt. Aber mir ehrlich gesagt dann wiederum nicht subtil und klug genug, um diese Themen wirklich zur Diskussion zu stellen. Es ist von allem ein bisschen, die Zweideutigkeit droht, in Beliebigkeit abzudriften. Wie ein Essen mit exquisiten Zutaten, das aber leider nicht mehr mundet, weil diese wild zusammengerührt sind. Die Geschmacksrichtungen lassen sich nicht mehr differenzieren, die Geschmacksknospen werden alle gleichzeitig aktiviert, nichts bleibt konkret im Gedächtnis.
Ich weiß, ich begebe mich hier mit meiner Einschätzung auf dünnes Eis. Schließlich wird die Künstlerin zu einer der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Kunst gezählt. „Faust“ in Venedig war eine starke Arbeit. Weil sie fokussiert war. Doch „Wish you were gay“ hat bei mir auf emotionaler Ebene wenig ausgelöst und auf intellektueller Ebene ist sie mir nicht differenziert genug. Weder mein Kopf noch mein Bauch haben ihr Warum erkannt.
Kunsthaus Bregenz
Anne Imhof „Wish You Were Gay“
8.6.–22.9.2024
Links
- Artikel über die Ausstellung bei artline
- Über den Vandalismus an den Billboard von Anne Imhof
- Bericht des ndr über Anne Imhof als Außenseiterin
- Über die Philosophin Judith Butler
- Die Webseite der Vorarlberger Künstlerin Claudia Mang
- Viele andere Künstlerinnen setzen sich mit ähnlichen Themen auseinander. Miriam Cahn zum Beispiel (für die ich den Ausstellungskatalog Ihrer Ausstellung „Das genaue Hinschauen“ im Kunsthaus Bregenz gestalten durfte) spielt in vielen ihrer Bilder mit der Ambivalenz zwischen Schönheit und Dunkelheit. So fallen mir die Bilder von Atompilzen ein, die aussehen wie wunderschöne Blumen, oder das Werk „Mare nostrum“, von dem man zunächst schöne Blautöne von Wasser wahrnimmt und erst danach die ertrinkenden Menschen. Auch die Künstlerin Rosemarie Trockel setzt sich mit feministischen Themen auseinander. Hier habe ich über ihre Ausstellung im MMK Frankfurt geschrieben
Liebe Frau Dagmar Reiche,
ich danke Ihnen sehr für diesen Artikel, sie sprechen mir aus tiefster Seele. Ich bin seit über 30 Jahren freischaffende Künstlerin (mit Mann und 3 Kindern) und habe wie Sie das Gefühl: ich verstehe Kunst nicht mehr (und will auch gar nichts mehr damit zu tun haben….) bis zu: ich bin gar keine Künstlerin und habe ich mir das alles nur eingebildet. (nach vielen Ausstellungen in Galerien und Museen europaweit..) Sie haben mich gerade an einem Tiefpunkt, erwischt daher hat Ihr Artikel sehr gut getan. Ich fühle mich nicht alleine. Danke. Margit DenzStrolz
Liebe Margit DenzStrolz, danke für Ihr ehrliches Feedback. Das Zweifeln gehört wohl dazu, aber manchmal nimmt es so überhand, dass man nicht nur seine Kunst, sondern auch sich selbst infrage stellt. Und dann braucht man wirklich eine gute Erdung, um nicht zu verzweifeln. Ich denke, die zeitgenössische Kunst hat häufig Kontakt zu den Menschen verloren und ist nur noch einigen wenigen zugänglich. Und dann oft auch nur über den Kopf und nicht über den Bauch. Wie wichtig Kunst und Kreativität sind, auch für unsere Gesellschaft (und nicht nur für den einzelnen Kunstschaffenden), das ist den meisten nicht klar. Angefangen von Eltern und Lehrern bis hin zur Politik. Dabei gibt es mittlerweile viele Forschungen zu dem Thema. Doch noch immer wird Kunst als Luxus für eine Elite empfunden, befeuert durch die Dinge, die besonders in der Presse verbreitet werden (Millionenverkäufe, 3-Jährige Genies, Künstler als Helden der Selbstvermarktung oder verkannte Verrückte…). Für mich bleibt da nur, dagegen anzuschreiben, Vorträge zu halten. Zu hinterfragen, mir meine eigene Meinung zu bilden, mich immer wieder auf Kunst einzulassen statt mich wegzudrehen.. Und zu versuchen, nicht die Freude an der Kunst zu verlieren.