Picture-Scoring:
Kunst hörbar machen

Jakob Wiersch ist Spezialist für Picture-Scoring. Einfach gesagt: Er vertont Kunstwerke. Hier beschreibt er anhand meines Bildes „Wachstum am Wasser“ wie er dabei vorgeht. Kopfhörer aufsetzen und staunen!

kunstreiche Wachstum am Wasser

Schritt 1: Spüre das Bild

In diesem ersten Teil geht es noch nicht darum, die Aussage eines Bildes zu erfassen und darzustellen. Vielmehr lasse ich die Stimmung des Bildes meinen Kopf und meine Gedankenwelt steuern. Die Aufgabe besteht weniger darin, Sichtbares musikalisch wiederzugeben – das tut das Unterbewusstsein – ich bin vielmehr aktiv damit beschäftigt, dem umfangreichen Ton-Aufkommen einen Rahmen zu schaffen, damit ich das, was entstehen will, mittels meiner musikalischen Möglichkeiten auch ausgedrückt bekomme. Dabei bewegen sich meine Hände bereits über das Klavier, damit von der Idee, die mich einnimmt, nichts verloren geht. So entsteht ein erster Prototyp, wenn man es technisch ausdrücken möchte. In der Malerei würde ich diesen Schritt mit der Skizze vergleichen.

Schritt 2: Rekapitulieren und Anpassen

In diesem Schritt setze ich mich immer wieder mit dem Prototyp auseinander und bringe ihn in eine Form, die harmonisch und gleichermaßen ästhetisch ist. Verglichen mit einem Handwerk würde ich jetzt den „unfertigen Klotz“ mit einem gröberen Werkzeug bearbeiten. Ob hierbei Lautstärke, Takt oder Geschwindigkeit bereits eine Rolle spielen, hängt stark vom „picture“ ab. Es entsteht eine erste Rohform. Vielleicht passt hier der Vergleich zu einem skizzierten Bild mit festen, klaren Konturen. Das Motiv ist bereits deutlich erkennbar, der Inhalt fehlt aber noch.

Schritt 3: Konturen, Linien, Licht und Schatten in Tönen

Was bisher eine einzelne Melodie war, wird nun vom gesamten Kontingent an Klaviertönen nachgezeichnet. Mal Takt für Takt, mal frei gespielt und aufgenommen, wird das Stück um eine passgenaue Variante angereichert. Die Darstellung des Bildes findet damit einen zunehmend klaren Ausdruck. Es werden immer mehr Akzente – teils per Klavier, aber auch nachträglich in der Notation – in das Stück eingearbeitet. Oder, mit dem Bild der Kunst: Die skizzierte Grafik erhält verschiedene Schraffuren. Schatten werden bereits angedeutet und die klaren schwarzen Linien werden durch weitere in verschiedenen Stärken ergänzt.

Schritt 4: Ausmalen mit den schönsten Farben, die es gibt

Streicher sind das Herz eines Orchesters. Als würde man in eine Gussform flüssige Klänge einfüllen, Schicht für Schicht, von oben nach unten, wächst die konsequent erweiterte musikalische Bildbeschreibung zu einem kleinen Orchesterstück heran. Hierbei hat jedes einzelne Streichinstrument seine besondere Rolle zu „spielen“. Geige, Bratsche, Cello, Kontrabass… Mehr und mehr formt sich ein musikalisches Pendant zum Gemälde. Im direkten Vergleich zur „Klavier-Version“ ist jetzt wesentlich mehr deutbarer Inhalt vorhanden.

Schritt 5: Die einzigartige, tragende Rolle der Blechbläser

In ihrer Funktion als „starker Begleiter“ bringen die Blechblasinstrumente mit Hilfe ihres enormen Ausdrucks Klarheit und Präzision in die bestehende Klangvielfalt. Sie fassen die akustische Energie zu einem deutlichen Signal zusammen – wie es bereits seit Jahrhunderten ihre Aufgabe ist. Ich würde sie mit festen Pinselstrichen vergleichen, die besonders relevante Formen bzw. Bereiche im Gemälde nochmals stärker zur Wirkung bringen. Dabei müssen sie nicht mal farbgleich sein – nur das Festigen der Aussage ist wichtig.

Schritt 6: Mehr Bild-Details in die Akustik übernehmen

Jetzt, da die Aussage des Bildes grundsätzlich abstrahiert und gefestigt ist, sollten auch noch Details eingearbeitet werden. Das Gemälde „Wachstum am Wasser“ gibt sehr lebendig den unermüdlichen Weg eines Wasserlaufes in einer blühenden, natürlichen Umgebung wieder. Hier müssen quirlige Tonfolgen und tropfende Zupflaute die schwungvolle Bewegung des Wassers stetig begleiten und an den Seiten niedertropfen. Man kann die kalten Wasserspritzer im Gras beinahe spüren.

Schritt 7: Finale

Mit letzten Akzenten schließe ich meine Komposition ab. Winzige Wasserstrudel an Blättern und kleine Hölzern werden angedeutet. Glitzernde, sehr hohe Töne übernehmen den sonnigen, vitalen Character des Bildes. Jetzt ist es fertig.

Ich danke der Künstlerin, dass ich ihr Gemälde musikalisch begleiten durfte. Es ist immer wieder eine spannende Herausforderung und immer wieder eine besondere Freude, etwas gemeinsam zu schaffen.

Ich habe zu danken. Es ist ein Geschenk, diesen faszinierenden Prozess der Komposition so nachvollziehbar präsentiert zu bekommen und ihn hier einstellen zu dürfen. Ich finde, Jakob macht eine wunderbare Arbeit. Das Picture-Scoring meines Bildes hat mich tief berührt.

Wer mehr von Jakobs Arbeiten hören möchte: Hier geht es zu seiner Webseite picture-scoring