Heute schreibe ich über etwas sehr Persönliches. Enge Freunde wissen es: Ich bin introvertiert. Andere Menschen schütteln ungläubig den Kopf und fragen: Du?! Du bist doch nicht schüchtern!“. Stimmt, schüchtern bin ich nicht. Aber introvertiert. Das ist nicht das Gleiche.
Vor rund 15 Jahren bekam ich per Mail eine Bitte um Mithilfe bei einem Fragebogen zu einer Abschlussarbeit, in der es um extrovertierte und introvertierte Menschen ging. Von der zweiten Kategorie hatte ich noch nie etwas gehört, machte aber trotzdem mit. Dann kam die folgende Frage: Was machen Sie lieber: Telefonieren oder E-Mail schreiben? Ankreuzbar war eine Skala, die von „Ich hasse“ bis „Ich liebe…“ ging. Ich hielt inne.
Ich ruf dann mal an … Nein, bitte nicht!
Bis dahin hatte ich immer gedacht, meine Aversion gegen Telefonieren sei eine persönliche Macke – weshalb ich davon kaum jemanden erzählt hatte. Meine Verlagskollegin wusste davon, konnte es aber nicht glauben, weil man es mir nicht anmerkte (sie saß bei mir im Büro, hatte also viele Telefonate mitbekommen, bei denen ich heiter mit meinem unsichtbaren Gegenüber plauderte oder taff verhandelte).
Meine Zeit als Ärztin in einem englischen Krankenhaus lag da auch schon einige Jahre zurück, aber ich erinnerte mich, dass meine größte Herausforderung war, die Anrufe der Allgemeinmediziner entgegenzunehmen, die mir berichteten, warum sie welchen Patienten ins Krankenhaus einlieferten.
Ja, ich hasse es zu telefonieren. Die Erfindung der Anrufbeantworter gehört für mich zu einer der besten der letzten Jahrzehnte. Die Möglichkeit, E-Mails zu schreiben, ist noch besser. Dort kann ich antworten, wann ich will. Kann in Ruhe darüber nachdenken, was ich sagen möchte. Es entstehen keine peinlichen Gesprächspausen. Und Smalltalk muss ich auch nicht führen.
Jedenfalls war ich freudig überrascht, dass diese Eigenart von mir es offensichtlich wert war, in einen Fragebogen aufgenommen zu werden – was dafür sprach, dass ich nicht die Einzige auf dieser Welt bin, die sie hat. Und dann vergass ich das Ganze wieder. Bis Anfang letzten Jahres.
Ein Aha-Erlebnis
Ich machte einen Online-Kurs zum Thema Marketing für Kreative, in den weiterführenden Tipps fand ich einen Link zu einem TED-Talk von Susan Cain. Dieser Vortrag über die Kraft von Introvertierten war ein Augenöffner. Bereits mit ihren ersten Sätzen – eine kurze Kindheitsepisode in einem Zeltlager – hatte sie mich am Haken. Fassungslos nickend saß ich vor dem Bildschirm bis zum Ende der knapp 20 Minuten.
Was es bedeutet, introvertiert zu sein
DAS WAR ES. Ich bin nicht verkehrt oder seltsam. Ich bin nicht unnormal, nur weil ich nicht gern auf Massenveranstaltungen gehe.
- Ich wusste plötzlich, warum ich schon früher lieber mit Freunden beim Spielabend saß, als mich in Clubs anzubrüllen oder bei Konzerten Körper an Körper zu tanzen. Warum ich einem Buch auf dem Sofa vor dem Kamin schon immer den Vorzug zu einem Treffen mit einer Freundesgruppe auf dem Weihnachtsmarkt gegeben habe. Warum mir Großraumbüros den Schweiß auf die Stirn treiben und ich die Termine zum Benutzen des Waschkellers im Studentenwohnheim immer so legte, dass ich möglichst niemandem begegnete. Smalltalk ist eine Herausforderung!
- Ich wunderte mich nicht mehr, dass ich in großen Gruppen oft stille Zuhörerin bin und gleichzeitig sehr gern Vorträge über Herzensthemen halte (solange ich mich darauf vorbereiten darf), dass ich viele Frage stelle und so häufig ungeduldig werde.
- Mir wurde klar, warum ich meine Freunde sehr liebe und es trotzdem immer als Herausforderung empfinde, mit ihnen in einer großen Gruppe gemeinsam Urlaub zu machen.
- Mir fielen zahlreiche Episoden aus meinem Leben ein (das ja nun schon ein paar Jahrzehnte dauert). Und alles fiel wie bei einem gelösten Puzzle an den richtigen Platz.
Es war ganz einfach: Ich gehöre zu der gar nicht so kleinen Anzahl von Menschen, die introvertiert sind. Die Ausprägung nimmt bei mir in den letzten Jahren zu, vielleicht auch, weil ich mehr auf mich achte und weniger das tue, was „normal“ zu sein scheint.
Introvertiert: nicht komisch, nur anders
Introvertiert zu sein bedeutet nicht, krank zu ein. Auch nicht, besonders zu sein. Sondern nur, bestimmte Eigenschaften in mehr oder weniger starker Ausprägung zu besitzen, die mit unserer westlichen Gesellschaft und Kultur weniger kompatibel ist, als die der extrovertierten Menschen. Was das Leben für Introvertierte oftmals zu einer Herausforderung macht.
Menschen sind soziale Wesen – das gilt natürlich auch für Introvertierte. Aber sie brauchen eher kleine Dosen davon, weil das soziale Miteinander nicht die Batterien auflädt, sondern Energie zieht. Teamwork ist eine Herausforderung; introvertierte Menschen können nicht nur gut Zeit mit sich selbst verbringen, sondern laufen zu Höchstleistungen auf, wenn sie selbstbestimmt und in Ruhe arbeiten können. Klassenzimmer mit Gruppenarbeitstischen lösen Herzrasen aus, ein einzeln stehender Tisch in einer Ecke dagegen Vorfreude. Ein klingelndes Telefon: purer Terror. Eine Türklingel von einem nicht erwarteten Gast: ebenso. Beides wird gern ignoriert.
Die Kraft der Ruhe. Was ich liebe
Kein Wunder also, dass ich es liebe, in meinem Atelier kreativ zu sein. Wenn ich die Tür hinter mir schließe, umgibt mich Stille. Ich rieche die Farben und Papiere, entdecke die Schatten, die durch die Jalousien erzeugt werden. Ich höre das Sirren des Druckers und das Brummen des Computers, spüre das Knarren des Bodens unter meinen Füßen (im Sommer anders als im Winter)! Ich sehe all die Dinge, die mir etwas bedeuten: die Bücher, meine Bilder. Leinwände, Farben, Pinsel.
Das alles gibt mir kreative Energie und füllt mich mit großer Freude. Genauso wie eine Freundin, mit der ich verabredet bin und die mir bewusst ihre wertvolle Zeit schenkt. Solche Gespräche müssen nicht immer tiefgründig sein, auch das Lachen hat seinen Platz. Doch es muss von beidem etwas da sein: Leichtes und Gehaltvolles, Allgemeines und Persönliches. Schön ist ein Austausch und auch, dabei etwas Neues zu lernen.
Was ich nicht liebe: Selbstvermarktung
Nun entsteht Kunst vielleicht in der Stille (zumindest bei mir). Aber sie braucht auch Publikum, muss gesehen werden, damit sie etwas bewirken kann. Und hier sind wir bei den Herausforderungen: Um Kunst sichtbar zu machen, muss die/der Kunstschaffende auch selbst ins Rampenlicht. Das gilt nicht erst seit heute.
Mit Erklärungen wie das am besten geht, verdienen gerade viele Menschen gutes Geld. Nein, man braucht nicht unbedingt eine Galerie dafür – aber eine gehörige Portion Selbstvermarktungsfähigkeit. Wenn Sie auch introvertiert sind, überkommt Sie beim Lesen vermutlich gerade ein Unwohlsein. Falls Sie es nicht sind, rufen Sie sich nochmal meinen bisherigen Text in Erinnerung und versuchen Sie sich vorzustellen, was dieses Wort bei introvertierten Menschen auslöst. Puh.
Was gut funktioniert, ist das Schreiben. Ich liebe es, Newsletter zu verschicken und meinen Blog zu füllen – kann ich das doch in meinem eigenen Tempo, in Ruhe und meinen individuellen Prioritäten. Mit meinem Perfektionismus und in meinem ganz persönlichem Stil. Ich kann dabei ich sein. Auch auf Mails und Kommentare zu antworten, macht Freude.
Doch bei Social media wird es schon schwieriger. Dort ist der Durchsatz so hoch, dass ich mit dem Wahrnehmen und Verdauen nicht hinterher komme. Die Sinnenreize fühlen sich so an wie ein flimmernder Bildschirm: Sie machen mir Kopfschmerzen und schlechte Laune. Ein schlecht gekochter Brei aus unzähligen Zutaten, die einfach in einen Topf geworfen werden. Und dazu soll ich beitragen? Da dreht sich mir der Magen um.
Vorträge halte ich gern, kann ich doch so mein Wissen teilen und versuchen, Menschen für das zu begeistern, wofür ich brenne. Ausstellungsaufsichten oder -eröffnungen sind da schon schwieriger: Sie können sehr erfüllend sein, wenn es gute Gespräche gibt. Aber oft fühle ich mich danach so, als hätte mir jemand den Stecker gezogen und ich wäre den ganzen Abend auf Akku gelaufen (dessen Füllstand am Schluss bei nahezu Null liegt).
Die Vorstellung, mich selbst zu inszenieren oder von Event zu Event zu hüpfen, löst bei mir Fluchtreflexe aus. Ich kann eine Gruppe führen und einen vollen Terminkalender super organisieren und abarbeiten (ich habe jahrelang als Projektmanagerin und Redaktionsleiterin gearbeitet und habe das, so denke ich, auch sehr gut gemacht). Aber es strengt mich an. Und das mag ich mir immer weniger antun. Meine Lebenszeit wird wertvoller und ich möchte sie mit Dingen füllen, die mir gut tun. Nur so kann ich meine Kreativität umsorgen und Gutes nach außen geben.
Fazit
Warum ich das ausgerechnet heute schreibe? Ich vermute, weil gerade sehr viele Aktivitäten stattfinden, die alle toll sind. Die aber auch ein gerütteltes Maß an „nach Außen gehen“ und „sich in einer großen Gruppe abstimmen“ umfassen, und mich deshalb sehr herausfordern. Normalerweise nutze ich die Vorweihnachtszeit, um auf das vergangene Jahr zurückzublicken und Pläne für das neue zu schmieden. Doch dafür brauche ich ein Sofa, ein Notizbuch, eine Tasse Kaffee, Kakao oder Tee. Und eine gehörige Portion Ruhe. Glücklicherweise sind es noch vier Wochen bis Weihnachten. Und ein paar Termine im Kalender sind noch frei. Noch …
Links
- Susan Cains Ted-Talk über introvertierte Menschen (auf englisch); ihr sehr empfehlenswertes Buch „Still. Die Kraft der Introvertierten“ ist auf Deutsch bei Goldmann erschienen
- Das Thema treibt mich offenbar gerade um, wie man an meinem letzten Blogartikel sieht: Winter-Blues oder Online-Frust
- Über die Herausforderung von Vernissagegesprächen „Ihre Kunst sagt mir nichts“
Hallo Dagmar,
auch wenn es wahrscheinlich niez vermutet: auch ich habe einen gehörigen Anteil an Introvertiertheit. Die ersten Sätze in deinem Artikel konnte ich nur nickend bejahen. Auch wenn ich Vorträge und sogar Workshops liebe, am Abend ziehe ich mich zurück und brauche Auszeit und Ruhe, um wieder aufzutanken. Und das mit der Selbstvermarktung: eine ewige Mühe. Zum Glück habe ich inzwischen einige Tricks gelernt, wie es leichter für mich geht. Auf einige Dinge habe ich keine Lust, was natürlich immer Konsequenzen nach sich zieht. Aber: ich bin bereit die zu tragen. Allerdings wenn es an die eigene Existenz geht, dann wird es schwierig. Ich drücke dir auf alle Fälle die Daumen, dass die Welt endlich sieht, welch wunderbare Dinge in die Welt bringst.
Liebe Carmen, ehrlich gesagt wundert es mich gar nicht, dass du auch introvertierte Anteile in dir trägst. Nur, dass du so gern/gut telfonierst, spricht dagegen ;-) Ja, über die Jahre lernt man Tricks und Strategien. Ich finde nur spannend, dass es trotzdem eher schwerer als leichter wird. Ich denke, dass dazu auch die Veränderungen in unserer Welt und unserer Art zu leben, beitragen. Wie du schreibst: Es ist ein ständiges Abwägen, wieviel man bereit ist zu tragen und wann es zu schwer wird. Ich möchte jedenfalls nicht die Leichtigkeit verlieren oder zu einer zynischen Misanthropin mutieren. Oder gar verlernen, meine Kunst zu lieben. Dir einen schönen ersten Advent!