Vor kurzem habe ich mich um die Aufnahme in die Gedok Reutlingen beworben. Für die Jurierungssitzung musste ich einige Originalwerke einreichen. Die Hinreise konnte ich mit der Einladung zu einem Fest auf der Schwäbischen Alb verbinden. Für die Abholung der Bilder habe ich mir einen ganzen Tag Zeit eingeplant, wollte ich doch schon seit geraumer Zeit den Museen in Reutlingen einen Besuch abstatten.
Als Malerin und Druckgrafikerin war ich sehr gespannt auf das Kunstmuseum in Reutlingen – hat dieses doch nicht nur zwei Standorte, sondern auch mehrere programmatische Schwerpunkte:
- Zeitgenössische Kunst
- Konkrete Kunst
- Holzschnitt des 20. und 21. Jahrhunderts
Alles Richtungen, in denen ich entweder selber arbeite oder die ich sehr spannend finde. Außerdem interessiert mich immer die Architektur von Ausstellungsgebäuden, das Zusammenspiel zwischen Ort und Kunst und die Kuratierung. Gibt es einen didaktischen Anspruch und falls ja, wie wird er umgesetzt? Und, nicht zuletzt, wie wird kommuniziert?
Eckdaten – das Kunstmuseum ist groß!
Vorab eine kurze Recherche. Ich bin überrascht: Reutlingen ist ja nicht gerade die größte Stadt im Südwesten der Republik, zudem hat sie mit der nahe gelegenen Landeshauptstadt Stuttgart ernstzunehmende kulturelle Konkurrenz. Doch das Kunstmuseum Reutlingen, eine kommunale Einrichtung, muss sich nicht verstecken – ganz im Gegenteil.
Es hat etwa 2.400 Quadratmeter Ausstellungsfläche, das ist fast viermal so viel wie die Kunsthalle Mannheim oder fünfmal mehr als das Kunstmuseum Stuttgart. Eine riesige Zahl, die ich kurz mit mir Geläufigem vergleiche: Mir stehen in meinem Galerieraum rund 50 Quadratmeter zur Verfügung (ein Luxus!), der Kunstverein Wasserburg, in dem ich zweite Vorsitzende bin, kann gut 100 Quadratmeter bespielen. Jetzt bin ich noch gespannter und mache mich auf den Weg.
Mir war nicht klar, dass ich als Besucherin auch auf dem kleinen Platz direkt vor den Wandel-Hallen parken kann, kostenfrei! Der Zugang ist nicht gerade leicht zu erkennen. Stattdessen habe ich das Parkhaus am Bahnhof genommen, zu Fuß rund 5 Minuten.
Wandel-Hallen
Die Bezeichnung für diesen Ort mag ich, auch wenn sie sich nur aus dem Namen des früheren Eigners Christian Wandel herleitet. Das Gebäude beherbergte einst eine Metalltuchfabrik. Ich frage mich, was genau dort eigentlich produziert wurde. Mal wieder wird Tante Google bemüht: Solche Unternehmen stellen Metallsiebe und endlose Metalltücher her. Hmm, noch immer kein Kopfkino, ich recherchiere weiter. Ein Schwerpunkt für diese Art von Produkten war und ist die Papierherstellung und das Erzeugen von Wasserzeichen auf Wert- und Geschäftspapieren (hätte ich das wissen sollen?). Doch es gibt weiteren Bedarf, auch heute noch, z.B. als Filtergewebe, für Transportbänder etwa in der Lebensmittelindustrie oder in Entwässerungsanlagen, als Material in Architektur und Design, in Windkanälen oder beim Fechten. Wieder etwas gelernt.
Ich muss zugeben: Das Gebäude wirkt zunächst eher abweisend, fast hermetisch, zumindest auf der Seite des Eingangs. Trotz typografischer Bespielung an der Mauer bin ich nicht sicher, ob ich richtig bin. Ich traue mich und trete ein.
Das Haus ist mehrgeteilt: Im Untergeschoss, der Galerie, ist die Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst, im zweiten Stock findet sich die konkrete Kunst. Dazwischen ist eine Etage vom Kunstverein Reutlingen bespielt, zudem hat die Stiftung für Konkrete Kunst ihren Sitz im Haus. Dieses System erschließt sich mir nicht auf den ersten Blick. Egal, ich beginne ganz unten und arbeite mich dann nach oben.
Kunstmuseum Reutlingen | Galerie
Sa., 2. Juli bis So., 23. Oktober 2022: Im Schatten der Bäume. Çiğdem Aky
Zunächst fällt mir die wunderbare Architektur ins Auge: Der Raum mit seinen Bögen, den großen Fenstern und dem tollen Licht ist beeindruckend und kann Kunst wunderbar in Szene setzen.
Die momentane Ausstellung „Im Schatten der Bäume“ der Stipendiatin Çiğdem Aky hinterlässt bei mir ein zwiespältiges Gefühl. Zunächst finde ich sie interessant, die ersten Blickachsen und Bilder sprechen mich an – sowohl farbig wie auch kompositorisch. Doch nachdem ich die ersten zehn Exponate gesehen habe, merke ich, dass mich die Ausstellung ermüdet. Das „wiedererkennbare Bildschema“ (laut Flyer) langweilt mich ehrlich gesagt nach dem x-ten Bild, mir fehlt eine zweite Ebene, die mein Interesse lebendig hält. Schade.
Kunstmuseum Reutlingen | Konkret
Sa., 26. Februar bis So., 28. August 2022: Vom Verrinnen – Zeitkonzepte der Gegenwartskunst. Bernard Aubertin, Inge Dick, Rom Gaastra, Gosbert Gottmann, Tommi Grönl und & Petteri Nisunen, Manuela Kasemir, Timo Klos, Dimitry Orlac, George Rickey, IC-98 – Patrik Söderlund & Visa Suonpää, John Woodman
Oh ja, das Thema dieser Ausstellung spricht mich an, das Key Visual auf dem Flyer ebenso. Zeit ist ein wichtiges Element in der Kunst und im Schaffensprozess, über das ich persönlich oft sinniere: das Empfinden für die Zeit, wie kann ich sie zeigen, Be- und Entschleunigung, Langsamkeit, Geduld. Was passiert, wenn ich versuche, Dinge zu wiederholen: Kann und mag ich das überhaupt – ich, deren Geduldsfaden oft weniger lang ist als die Spagetti auf der Gabel…
Die 13 gezeigten Künstler*innen setzen sich auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Thema Zeit auseinander. Das ist animierend: Ich bleibe alert, muss immer wieder die Richtung meines Sehens und Denkens ändern, erhalte spannende Impulse. Ich lasse mich dabei auch auf Kunstformen ein, zu denen ich ein eher ambivalentes Verhältnis habe, etwa Video oder Installation. Ich verbringe etliche Zeit in diesen Räumen mit Schauen und Lesen. Bei allen Künstler*innen hängt ein DinA4-Blatt, das ich mit zum Werk nehmen und in Ruhe lesen kann – sogar verständlich geschrieben für Menschen, die nicht Kunstgeschichte studiert haben!
Diese Etage löst etwas in mir aus, stößt etwas an, reizt zum Weiterdenken. Ich verlasse die Räume mit dem Gefühl, etwas geschenkt bekommen zu haben.
Kunstverein Reutlingen
26. Juni bis 4. September 2022: Von der Beobachtung. Anna Solal & Jochen Lempert
Während ich durch diese Etage laufe, findet zeitgleich eine Führung mit Kindern statt. Diese spricht mich mehr an als die Kunst selbst. Das Thema der Ausstellung ist sicher zeitgemäß: die Auseinandersetzung mit der Umwelt, mit den Dingen, die uns im Alltag umgeben. Manche der Werke erinnern mich an die Aussteller*innen entlang der Seepromenade, die aus Gabeln und anderen Dingen Sachen herstellen und verkaufen. Auch auf der Art Muc im Sommer fand sich der eine oder andere, der versuchte, solche Dinge für teures Geld als Kunst zu verkaufen.
Ganz ehrlich: Ich weiß nicht recht, ob ich da mitziehe, bin etwas ratlos. Dekoration wird nicht automatisch zur Kunst, nur weil sie sich Mechanismen des Upcyclings zu eigen macht. Zumal die Idee grundsätzlich alles andere als neu ist – man denke an die Ready-Mades der Dadaisten, etwa Marcel Duchamps Bicycle Wheel von 1913, oder Pablo Picassos Stierkopf aus Sattel und Fahrradlenker von 1942.
Die Fotografien von Jochen Lempert wiederum finde ich spannend. Sie sind wunderbar komponiert, berühren mich und eröffnen gerade durch die Reduktion aufs Schwarz-Weiße eine zweite Ebene, die zum Nochmalhinschauen anregt…
Museum Reutlingen | Spendhaus
- 15. Mai bis 21. August 2022: Hunger nach Bildern. Strawalde (Jürgen Böttcher)
- 3. Juni bis 25. September: Die Liebe ist ein Hemd aus Feuer. Liebespaare bei HAP Grieshaber
- Bis 29. Januar 2023: Ins Licht. Highlights der Gemäldesammlung
Obwohl ich bereits voller Eindrücke und Denkanstöße bin, entschließe ich mich, auch noch das Spendhaus zu besuchen. Die nette Dame am Empfang in der Galerie der Wandel-Hallen hat einen nicht unerheblichen Anteil daran. Nicht nur, dass sie mich superfreundlich begrüßt hat. Sondern sie hat mir persönlich den Weg zum Spendhaus erklärt (5–10 Minuten, nicht zu verfehlen), und mir ans Herz gelegt, ich müsse dort UNBEDINGT das Baumhaus besuchen. Ich muss zugeben, dass ich noch nie so freundlich vom Personal eines Museums umsorgt worden bin. Zudem hat mich das extrem neugierig gemacht. Also los…
Dieses Gebäude wirkt ganz anders als die Wandel-Hallen – kein Wunder bei seiner rund 500-jährigen Geschichte. Auch hier stelle ich mir die Frage, woher der Name kommt. Eine kurze Recherche: Das städtische Gebäude wurde für die Spendenpflege errichtet, einer Art Unterstützungskasse für Arme und in Not geratene Bürger. Dafür wurde hier Getreide eingelagert. Als ich nach meinem Fußweg durch die Stadt ankomme, betritt gerade die nette Dame aus den Wandel-Hallen vor mir das Gebäude. Sie sieht mich, dreht sich um und schenkt mir ein großes Lächeln. Ich freue mich.
Sammlung und Ausstellungen
Der Schwerpunkt im Spendhaus liegt beim Holzschnitt des 20. und 21. Jahrhunderts. Doch auch zahlreiche Gemälde sind Bestandteil der Sammlung und werden in immer wieder wechselnden Zusammenstellungen gezeigt. Ich muss zugeben, dass ich mit den derzeit drei parallel laufenden Ausstellungen fast ein wenig überfordert bin, zumal das Gebäude selbst noch Einiges zu bieten hat.
- HAP Grieshaber – das ist der Grund, warum ich überhaupt auf Reutlingen aufmerksam wurde. DER deutsche Holzschnittkünstler, der so viel bewegt (und geschaffen) hat. Nach meinen ersten eigenen Versuchen des Holzschneidens vor einigen Jahren habe ich mir mehrere Bücher über ihn gekauft. Schnell war mir klar, dass ich unbedingt Werke von ihm in natura sehen möchte. Und hier stehe ich nun, genieße seine Virtuosität und den Ideenreichtum mit dem er sich auf das riesige Thema Liebe einlässt – ein Sujet, mit dem sich mehr als eine Ausstellung bestücken ließe.
- Und dann noch eine Ausstellung mit Strawalde, der in diesem Jahr den Jerg-Ratgeb-Preis der HAP Grieshaber Stiftung erhalten hat. Sein Oeuvre ist groß, lebendig, vielfältig. Und sicher nicht durch solch eine Ausstellung komplett zu erschließen. Aber erstaunlicherweise funktioniert es trotzdem, mir einen Eindruck seiner Bildkunst quer durch die verschiedenen Schwerpunkten zu vermitteln: Natur und Wirklichkeit, Spiel und Musik, Wunder und Magie – mit ernsthaftem Humor im Jetzt und in der Verortung mit der Kunstgeschichte. Das funktioniert gut in der Auswahl der Werke und der Hängung.
- Die Auswahl der Gemälde aus der Sammlung zum Thema „Ins Licht“ finde ich spannend, merke aber, dass mir für ein drittes Thema mittlerweile die Offenheit im Kopf fehlt. Also schlendere ich noch durchs Haus, schaue mir die Fahrstuhlbemalungen in jeder Etage an und bin neugierig auf das Baumhaus im 4. Stock.
Baumhaus – Lounge & Art Space
Dieser Bereich wurde erst im vergangenen Jahr eröffnet – ich finde ihn super! Hier kann ich durchschnaufen, zum Selbstkostenpreis einen Kaffee trinken. Es gibt gemütliche Sitzgelegenheiten und die Möglichkeit, selbst kreativ tätig zu werden. Zudem wird an mehreren Stationen auf unverkrampfte Art Wissen zu Drucktechniken und HAP Grieshaber vermittelt. „Braucht Kunst einen Rahmen“?, „Wem gehört die Kunst“? – Karten mit Fragen regen zum Weiterdenken an. Wenn man mag, kann man die eigene Antwort drauf schreiben und an die Pinnwand heften oder in den Postkasten stecken. Kreative Begegnungen und niederschwellige Kunstvermittlung vom Feinsten. Ich wünschte, es gäbe mehr Orte wie diesen.
Passend dazu finden sich im Treppenhaus auf zwei Zwischenebenen Stationen, die die Technik des Holzschnitts begreifbar machen. Ich kann die Druckstöcke anschauen und vor allem anfassen, die Schritte eines Farbholzschnittes sind einzeln – mit jeweiliger Druckplatte und dem entsprechenden Zwischenergebnis – dargestellt, sodass ich mir auch ohne weitere Erklärung vorstellen kann, wie das prinzipiell funktioniert. Wirklich gelungen. Zur Wissensvermittlung gibt es im Eingangsbereich auch noch eine schönes Angebot mit Kunstbüchern und Katalogen. Da schlägt das Herz gleich noch ein bisschen schneller. Gut, dass ich noch einen kleinen Fußmarsch vor mir habe, so beschränke ich mich auf zwei schmale, gut tragbare Bände.
Fazit
Reutlingen ist für kunstinteressierte Menschen auf jeden Fall eine Reise wert: Das Kunstmuseum mit seinen beiden Standorten hat eine Menge zu bieten. Besonders beeindruckt hat mich die Vielfalt und die große Sammlung und Aufbereitung zum Thema Holzschnitt im Spendhaus. Eindrücklich fand ich auch die Freundlichkeit der Mitarbeiterinnen. Mein Favorit: das Baumhaus im Spendhaus. Was mir zudem besonders gefallen hat: Die Kommunikationsmaterialien sind wirklich gut durchdacht, stringent und einladend. Und das Begleitprogramm zur Kunst- und Wissensvermittlung ist sehr, sehr beeindruckend. Hut ab. Also: definitiv einen Besuch wert!
PS: Die Fahrt nach Reutlingen hat sich doppelt gelohnt: Ich bin in die Gedok aufgenommen worden.
Kunstmuseum Reutlingen / Wandel-Hallen, Eberhardstraße 14, 72764 Reutlingen
Kunstmuseum Reutlingen / Spendhaus, Spendhausstraße 4, 72764 Reutlingen
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Ich freue mich: Mein neuer Katalog ist fertig.
Hier lässt er sich online durchblättern
Weitere Links
- Kunstmuseum Reutlingen, hier die Unterseite zum Baumhaus
- Kunstverein Reutlingen
- Hier gibt es mehr Blogartikel zum Thema „Kunst erleben“
Ich hatte beim Lesen das Gefühl, im Museum gewesen zu sein. Danke für die tolle Beschreibung und die lebhaften Eindrücke – und fürs mitnehmen 😊
Liebe Lucia,
hab lieben Dank für deine Rückmeldung. Es freut mich sehr, wenn ich es schaffe, euch mitzunehmen. Oft ist es gar nicht so einfach, die Eindrücke passend zu beschreiben. Und auch an manchen Stellen kritisch zu sein – durchaus eine Überwindung.