Vor einigen Tagen habe ich durch meine Ausstellung im Hotel Lipprandt geführt. Über meine Kunst kann ich frei erzählen, wenn es sein muss, auch stundenlang. Die Herausforderung ist, sich zu entscheiden, was davon für Gäste wichtig und spannend genug ist, damit sie 30–40 Minuten interessiert zuhören. Deshalb habe ich mir vorab einige Gedanken dazu notiert.
Beim Aufschreiben meiner Überlegungen merkte ich, dass sie viel von dem spiegeln, wie ich grundsätzlich Kunst und Kreativität betrachte. Deshalb habe ich entschieden, daraus einen Blogartikel zu machen. Und wer weiß, vielleicht verführt dieser dazu, dass die eine oder der andere Lust bekommen, sich die Ausstellung noch anzusehen.
Zwei Geschichten zum Einstieg
Ich werde nichts über mich erzählen – das können Sie in meinem Katalog, auf meiner Webseite oder der im Hotel ausliegenden Broschüre nachlesen. Stattdessen werde ich mit zwei Geschichten beginnen.
Erste Geschichte: Rätsel auf der documenta
Vor einigen Jahren war ich mit zwei Freundinnen auf der documenta in Kassel. Ich glaube, es war die vorletzte. Ich weiß noch genau, wie wir vor einer Installation standen. Sie erschloss sich nicht direkt, und so las ich den langen Text auf einer Tafel daneben. Ich las ihn einmal, zweimal, dreimal. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, denke ich. Und der deutschen Sprache doch einigermaßen mächtig. Doch ehrlich, ich habe nicht verstanden, was dort stand.
Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, wo Kunst und Kultur keine große Rolle spielten. Theater, Konzerthäuser, Museen habe ich erst als junge Erwachsene das erste Mal von innen gesehen. Das, was ich über Kunst „wusste“, war das, was ich im Kunstunterricht in der Schule gehört hatte. Also keine große Kunstbildung. Hätte ich den Text mit Anfang zwanzig gelesen, hätte ich das Gefühl gehabt, es liegt an mir und meiner Dummheit, nicht am Text oder an der Kunst.
Auf der Documenta war ich glücklicherweise schon älter. Und hatte mich in der Zwischenzeit so viel mit Kunst beschäftigt, dass ich richtig wütend wurde. Wieso hängt jemand einen Text auf, der Kunst erklären und einen weiteren Zugang schaffen soll – und diese dann noch mehr verrätselt und unnahbar macht? Wie sollen Menschen einen Zugang zu Kunst bekommen, wenn sie das Gefühl haben, sie sind zu blöd, das zu verstehen? Warum müssen Texte über Kunst nur für intellektuelle Eliten geschrieben sein? Ich hatte das Gefühl, dass dieser Text mehr dazu da ist zu zeigen, wie gebildet der Schreibende ist, als dem Lesenden zu helfen.
Zweite Geschichte: ein Schlüsselerlebnis in London
Ich habe direkt nach meinem Studium 1,5 Jahre in Großbritannien gelebt und gearbeitet. Das Tolle: von der kleineren Stadt namens Bedford erreichte man mit dem Zug innerhalb von einer Stunde Central London. Das habe ich häufig genutzt, um nach der Arbeit oder am Wochenende spontan Großstadtfeeling zu tanken. In dieser Zeit habe ich auch viele Museen besucht und mir einfach Kunst angeschaut. Mein Zugang dazu war damals noch begrenzt; ich glaube ich machte es eher, weil ich das Gefühl hatte, es gehöre zur (kulturellen) Bildung.
Eines Tages war ich das erste Mal in der Tate Gallery in London. Ich stand vor den Bildern von William Turner. Und plötzlich musste ich mehrmals schlucken: Diese Bilder – die Skizzenbücher ebenso wie die großen Gemälde – fuhren mir direkt ins Herz. Da habe ich das erste Mal begriffen, was Kunst kann: berühren. Dazu braucht es kein Vorwissen, kein Studium der Kunstgeschichte. Das heißt nicht, dass man sich nicht auch mit ihr auseinandersetzen darf, natürlich darf man das. Und mehr Hintergrundwissen eröffnet sicher weitere Rezeptionsebenen. Und trotzdem ist das keine zwingende Voraussetzung. Zuneigung, Liebe, Erregung entstehen, auch ohne sie zu verstehen.
Was ich aus diesen Geschichten gelernt habe
Und seitdem schaue ich mir Kunst genauso an: unvoreingenommen. Ich erspüre, was sie mit mir macht, wie ich mich mit ihr fühle. Und entscheide auch, dass ich vieles nicht mag, es mich nicht anspricht oder ich es nicht verstehe. Na und? Die Welt ist glücklicherweise vielfältig und bunt.
Mittlerweile habe ich eine kleine Sammlung anderer Künstler. Diese Bilder habe ich nicht aus Marktüberlegungen heraus gekauft, so wie andere ihr Geld in Aktien anlegen. Sondern einfach nur, weil sie mich angesprochen, berührt haben. Und weil ich mich mit ihnen im Alltag gern umgebe.
Ich fasse also zusammen: Kunst muss man nicht verstehen, sie muss berühren. Und jeder Mensch kann etwas mit Kunst anfangen. Nicht alles packt jeden. Aber ich bin überzeugt, dass jeder etwas finden kann, was sie/ihn berührt. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Bildende Kunst wie Malerei, Grafik, Bildhauerei. Sondern ebenso für andere Kunstformen wie Musik, Theater oder Tanz.
Was hat das mit einer Ausstellung im Hotel zu tun?
Die meisten Künstler möchten ihre Kunstwerke gern in einer Galerie oder einem Museum hängen sehen. Wenn ich ehrlich bin, nehme ich mich davon nicht aus. In solchen Räumen wird die Kunst wie in einem Tempel zelebriert, sie steht richtig oder im übertragenen Sinn auf einem Sockel. Das gibt ihr natürlich per se eine Wertigkeit. Wie ein Hinweiszeichen: Das, was hier hängt, ist wertvoll. Doch viele Menschen haben Berührungsängste, waren noch nie in einer Galerie oder bei einer Vernissage. Vermutlich haben sie zu häufig Erklärungen wie ich auf der documenta gelesen. Und hatten dann wie ich das Gefühl, sie können damit nichts anfangen, Kunst sei elitär.
Ein Hotel dagegen ist ein Stück Normalität. Kunst dort muss sich der Beiläufigkeit stellen, den Rollkoffern und der Aufmerksamkeit, die auf andere Dinge gerichtet ist, wie essen gehen, Touren planen und die Sauna besuchen. Sie muss sich in engen Fluren behaupten, im geschäftigen Foyer, im Treppenhaus. Das ist eine Herausforderung.
Aber gleichzeitig auch genau das, was sie für mich ist: Alltagsbegleiter. Meine Kunst hängt nicht in Museen, für die man Eintritt bezahlen muss und dafür die Aufmerksamkeit uneingeschränkt auf die Kunst richtet. Sondern in Wohnräumen und Büros. Und dort kann sie in ihrer beiläufigen Unaufgeregtheit etwas bewirken. Kann Freude machen, zur Ruhe bringen oder Energie geben. Sie kann den Blick einfangen und fokussieren, wenn die Gedanken abschweifen. Sie kann zum Dialog einladen – mit dem Kunstwerk oder mit anderen über die Kunst.
Genau das ist auch Kunst hier im Hotel Lipprandt: eine Einladung, ohne Berührungsängste die Bilder anzuschauen. Zu entscheiden: mag ich, mag ich nicht, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Vielleicht auch mal den einen oder anderen der QR-Codes aktivieren, und mir dabei zuhören, wie ich über die Entstehungsgeschichte oder Materialien erzähle oder manchmal auch einfach nur zu einer kleinen Hörreise einlade, ganz ohne intellektuelle Verklausulierungen. Dabei guckt einem kein Galerist über die Schulter oder zieht die Augenbrauen hoch, weil man Fragen stellt. Kein Zwang, sich schick zu kleiden. Einfach nur die Einladung zu schauen (sogar im Bademantel auf dem Weg zum Wellnessbereich). Im eigenen Tempo durchzugehen und sich von der Kunst verführen – oder sie links liegen zu lassen.
Kunst darf nahbar sein
Kunst nahbar zu machen: Das möchte ich gern erreichen. Deshalb kreiere ich sie nicht nur, sondern schreibe auch seit rund zwei Jahren in meinem Blog darüber: über das, was mich bewegt, was in meinem Atelier passiert, über Erlebnisse mit der Kunst oder Gespräche mit anderen über die Kunst. Und deshalb führe ich auch gern durch meine Ausstellungen, erzähle über das Konzept der Bildauswahl, die Herausforderung und Tücken bei der Hängung, die Techniken und Lichtsituation. Dabei trete ich auch gern in den Dialog und beantworte Fragen. Ich möchte die Kunst von ihrem Sockel holen und Impulse geben, sich ihr ganz unvoreingenommen zu nähern.
Eine Ausstellung im Hotel zeigt: Um sich Kunst zu nähern, ist kein Vorwissen nötig, sondern nur Neugier und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Dann kann sie berühren.
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Ich freue mich: Mein neuer Katalog ist fertig.
Hier lässt er sich online durchblättern
Links:
- Kunst im Hotel – eine ungewohnte Ausstellung
- Über mein erstes selbst gekauftes Bild (das mich damals sehr berührt hatte)
- Das Hotel Lipprandt in Wasserburg, in dem gerade meine Kunst zu sehen ist
Liebe Dagmar, das hast du so schön geschrieben. Und genauso ist es auch. Ich war letzte Woche im Kunstmuseum Wolfsburg. Manches muss einem nicht gefallen und ich muss auch nicht alles verstehen aber offen darauf zugehen und wirken lassen, dass kann ich. Ich bin so gespannt, was für Rückmeldungen zu deiner Ausstellung kommen. Liebe Grüße aus dem Norden
Liebe Kathrin, stimmt: Offenheit braucht es. Ist es nicht spannend, wie sehr der Umgang mit Kunst und das „normale“ Leben übereinstimmen? Ohne Offenheit und Neugier ist auch der Umgang miteinander, mit neuen Situationen und Menschen schwierig. Ich werde berichten, wie es weitergeht. Bisher sind die Rückmeldungen sehr positiv :-)