Die Schönheit in der Kunst

von | 18. Juni 2021 | Kunstwissen

kunstreiche Still 2 Acryl auf Leinwand

Machen Sie einen kleinen Test: Schlendern Sie durch ein Einrichtungshaus, surfen Sie im Netz durch Modeshops, blättern Sie durch ein Designmagazin – und fragen Sie sich, was Sie anspricht. Manchmal das, was anders ist, was neugierig macht, meist aber das, was Ihnen spontan gefällt, oder? Falls Sie dann noch eines der dort gezeigten Dinge erwerben wollten, würden Sie sich bestimmt von Letzterem leiten lassen. Sie kaufen das, was Sie schön finden, was zu Ihrem Stil passt, zu ihren Vorlieben. Fragen Sie einen anderen Menschen, werden vermutlich nicht alle Präferenzen übereinstimmen. Was lernen wir daraus?

  1. Schönheit braucht keinen Zweck
  2. Schönheit, universell verständlich
  3. Die Definition von Schönheit
  4. Objektive Kriterien der Schönheit
  5. Schönheit und individuelle Erfahrungen
  6. Schönheit ist Lebendigkeit
  7. Darf Kunst schön sein?

Das Beispiel in der Einleitung zeigt vor allem zwei Dinge: Erstens ist Schönheit etwas, womit wir uns im Alltag gern umgeben. Und zweitens ist sie etwas Subjektives, etwas worüber wir trefflich streiten könnten, was sich nicht allen gleichermaßen erschließt. Eine Formel, die ein Problem löst, wird von einem Mathematiker als schön empfunden, von vielen anderen Menschen aber wohl eher als abschreckend. Zwölftonmusik oder Kompositionen zeitgenössischer Musik wird von wenigen Menschen begeistert gehört, die meisten verspüren eher das Bedürfnis, sich Ohrenschützer anzuziehen. Was für die einen magische Poesie ist, empfinden andere als sinnlose Aneinanderreihung von Worten. Und jeder kennt wohl die Situation, sich als Gast zu fragen, wie man sich mit rosafarbigen Gardinen, goldenen Lüstern oder Häkeldecken mit Troddeln wohlfühlen kann. Und doch gibt es Menschen, die gern in solch einer Umgebung leben.

Schönheit braucht keinen Zweck

Gleichzeitig – und das ist das Paradoxe daran – ist Schönheit eine Universalsprache, die uns seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte begleitet. Bereits unsere Vorfahren hatte Freude daran, ihre Faustkeile oder meterhohe Steine symmetrisch zu bearbeiten. Die schönen Faustkeile erledigten ihre Arbeit nicht besser als asymmetrische Alternativen, die riesigen Steine hatten, soweit man weiß, keinerlei zusätzliche Funktion. So liegt der Schluss nahe, dass der Mensch Symmetrie als besonders ästhetisch empfindet und Schönheit auch um ihrer selbst willen mag. Oder die farbigen Felszeichnungen in den Höhlen von Lascaux und Altamira, die kleinen Skulpturen, die in den Höhlen der Schwäbischen Alb gefunden wurden, die Ritzungen in Lampen oder anderen praktischen Alltagsdingen: Auch sie sind eine schöpferische Verwandlung der Natur in Kunst und werden von uns heute, zehntausende von Jahren später noch immer als schön empfunden.

Schönheit, universell verständlich

Schönheit ist von Bedeutung, hilft sie doch, die Welt besser zu verstehen. Oder welches Buch wird bei gleichem Inhalt eher gelesen – das sorgfältig gemachte mit passender Schrift und ansprechendem Buchdeckel oder das schludrig gesetzte mit löchrigem Text, bei dem das Auge abrutscht, statt durch die Zeilen geführt zu werden? Und welches der beiden wird als schöner empfunden? Eben.

Was ist schöner – Original oder Fälschung?

Schönheit ist eine Ausgewogenheit gegensätzlicher Kräfte – das war die feste Meinung des Künstlers Piet Mondrian. Viele Menschen kennen wohl seine Bilder mit den Rechtecken in leuchtenden Farben, getrennt von schwarzen Linien. Bekannt ist auch, dass er seine Flächen und Linien sehr lange hin und her schob, bis er mit der Komposition zufrieden war. Dabei besonders spannend: Das scheint nicht nur seine individuelle Meinung gewesen zu sein. Der Psychologe Dr. Chris McManus hat eines der Bilder Mondrians leicht abgewandelt, sodass es auf dem ersten Blick noch immer aussieht wie ein typischer Mondrian. Beide Versionen wurden von Stefan Sagmeister und Jessica Walsh, Designer und Macher der wunderbaren Ausstellung „Beauty“ unzähligen Besucher:innen gezeigt und diese gefragt, welches der beiden Bilder ihrer Meinung nach das Original sei. Immerhin 85% der Befragten auf der ganzen Welt entschied sich dabei für die richtige Variante. Schönheit scheint also doch eine kulturübergreifende Universalsprache zu sein.

Erinnerung und Unterbewusstsein

Weitere Beispiele solcher Untersuchungen sind die Experimente von Helmut Leder und Gernot Gerger. Sie ließen Demenzkranke ihnen vorgelegte Fotos von Gemälden in einer Reihenfolge von sehr schön bis am wenigsten schön ordnen – und zeigten, dass die Patienten genau diese Sortierung bei nachfolgenden Sitzungen fast immer identisch trotz Fortschreiten ihrer Erkrankung wiederholten. Die Bewertung von Schönheit bleibt also auch bei nachlassendem Erinnerungsvermögen vorhanden. In einem anderen Experiment wurden Menschen in solch schnellen Abständen Bildern gezeigt, dass sie nicht bewusst wahrnehmbar und bewertbar waren – und dabei ihre Mimik gemessen. Das verblüffende Ergebnis: Alle Teilnehmer lächelten bei Bildern, die in einer vorherigen Testreihe von der Mehrheit eindeutig als schön bewertet wurden. Unser Unterbewusstsein erkennt (und mag) offensichtlich Schönheit, ohne dass wir es merken.

Die Definition von Schönheit

Mit der Frage, was schön ist, beschäftigen sich Menschen verschiedenster Professionen seit jeher. Ob Philosophie, Neurobiologie, Wahrnehmungspsychologie, Germanistik oder Kunstgeschichte (um nur einige zu nennen) – die Denkwege und Schlüsse daraus sind so unterschiedlich wie die Arbeitsgebiete. Hier ein paar Beispiele subjektiver Auswahl:

  • Für Platon, Philosoph der Antike (der auch selbst malte und viel mit Künstlern verkehrte), war das Schöne nicht von dieser Welt. Auch wenn es sich in angenehmen Abbildern zeigt, wird Schönheit nur im Reich der Ideen geboren und bleibt nicht greifbar. 
  • Im Mittelalter war Schönheit etwas, was vom göttlichen Glanz des Schöpfers für den Menschen abfiel. Ein kleiner Blick auf seine Vollkommenheit, nach der die Irdischen streben.
  • Der Philosophen Immanuel Kant war überzeugt: Schönheit wohnt nicht objektiv den Dingen inne, sondern hängt von unserer Sicht darauf ab. Aber etwas, das uns gefällt, weil es mit einem persönlichen Interesse verbunden ist, ist nicht zwangsläufig schön, sondern weckt nur angenehme Gefühle. Das erste ungelenke Bild, dass unser Kind uns als Zeichen seiner Liebe schenkt, empfinden wir als schön – auch wenn es Kants analytischen Schönheitskriterien nicht genügt.
  • Der Philosoph Bonaventura bezog Schönheit auch auf die Art der Darstellung: Etwas Hässliches kann schön sein, wenn sein Wesen gut gezeigt wird. Beispiel: Das Gemälde „Kopf der Medusa“ – Tod, Blut, Gewürm und Hässlichkeit, meisterlich komponiert und gemalt von Peter Paul Rubens.
  • Für Friedrich Hegel war Schönheit nicht direkt in der Natur, sondern erst durch die Transformation in die Kunst sichtbar. Keine echte Sonnenblume kann demnach mit den von Vincent Van Gogh gemalten mithalten, keine Seerose mit denen im Teich von Claude Monet.
  • Dieser Denkrichtung folgten viele Künstler im 19. Jahrhundert: Wahre Schönheit kann nur durch die Kunst ausgedrückt werden – und nur dafür ist diese da.
  • Theophile Gautier, ein französischer Schriftsteller im 19. Jahrhundert, fand, dass Funktion und Schönheit nie deckungsgleich sein können. Seine Argumentation: Der funktionalste Raum eines Hauses ist die Toilette. Wohl aber selten der Schönste.
  • Nach den Weltkriegen durfte Schönheit nicht für sich stehen. Die Doktrin „Form follows function“ ordnete alles der Nützlichkeit eines Objektes unter, überflüssiges Dekor war verpönt.
  • Und Schönheit heute? Folgt man den visuellen Strömen des Social Web formt sich der Eindruck, dass nicht Vielfalt, sondern Gleichförmigkeit als schön empfunden wird. Lieber eintönige Langeweile als Abwechslung durch Normabweichung.

Grundsätzlich gibt es zwei Perspektiven, um die Frage nach Schönheit zu beantworten: Entweder gehorcht sie objektiven Kriterien oder ihr Empfinden hängt vom Betrachter ab. Für beide Blickwinkel gibt es Argumente, sodass vermutlich eine Mischung aus beidem vorliegt.

Kann Geschichtet-Abstraktes schön sein?

Objektive Kriterien der Schönheit

Dies ist eine der beiden möglichen Grundsätze: Schönheit wohnt dem Objekt inne, das angeschaut wird. Es gibt also objektive Merkmale, die Menschen dazu bewegen, etwas als schön zu bewerten.

Merkmale im Überblick

Objektive Merkmale, die Untersuchungen zufolge als schön empfunden werden, sind, neben der bereits genannten Symmetrie, auch Einfachheit und Klarheit (gut, um leicht verstanden zu werden) und eine Ausgewogenheit, etwa bei Kontrast und Proportion. So empfinden vielen Menschen den Goldenen Schnitt – eine klassische Proportionsaufteilung nach einer mathematischen Formel – als besonders schön und er ist Grundlage zahlreicher klassischer Gemälde. Doch ein gewisses Maß an Abwechslung, Intensität und (ja, auch!) Komplexität gehören ebenfalls dazu, um Langeweile vorzubeugen.

Kunstwissen Schönheit in der Kunst
Unser Gehirn kann abstrahieren – und in Abstraktem Vertrautes erkennen. So sieht es in Kompositionen von Farben und Formen häufig Landschaften, sobald sich eine Horizontlinie erahnen lässt.

Abstraktion

Unser Gehirn ist zwar effizient, mag aber trotzdem Herausforderungen. So schafft es zu abstrahieren, also aus verschiedenen Dingen die Gemeinsamkeit zu extrahieren. Hunderte unterschiedlicher Köpfe, von denen keiner aussieht wie der andere: Unser Gehirn erkennt trotzdem, dass Menschen in der Regel jeweils zwei Augen und Ohren, eine Nase und einen Mund haben – und diese auch an den ungefähr gleichen Stellen am Kopf zu finden sind. Umgekehrt mag es aber durchaus, wenn man ihm ein bisschen Eigenleistung beim Denken zugesteht. Mehrdeutiges animiert es dazu, nach einem Prinzip zu suchen, nach etwas Bekanntem oder einer Möglichkeit zu abstrahieren. Dafür braucht es allerdings ein paar bekannte Dinge, an denen es einhaken kann.

Gestaltgesetze

Die Gestaltgesetze beruhen auf der beschriebenen Abstraktionsfähigkeit des Gehirns und sind beispielsweise im Design und der Kunst von Bedeutung. So werden ähnliche, nah beieinander liegende oder sich in die gleiche Richtung bewegende Elemente als zusammengehörig wahrgenommen, und unterschiedliche Dinge fallen besonders auf. Den Gestaltgesetzen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass unser Gehirn faul ist. Es nimmt unsere Umgebung so wahr, dass es möglichst wenig arbeiten muss – und interpretiert deshalb Dinge so, wie sie sich in die vorhandene Erfahrungswelt fügen und gut ordnen lassen. Willkommen im Land des Schubladendenkens! Dies ist übrigens ein wichtiger Grund dafür, dass die meisten Webseiten und Landingpages nach dem gleichen Prinzip aufgebaut sind – sie orientieren sich an diesen gestaltpsychologischen Grundsätzen. 

Neuroästhetik

Dieses gerade mal zwei Jahrzehnte alte Forschungsfeld versucht herauszufinden, welche biologischen Grundlagen ästhetischen Empfindungen und kreativen Prozessen zugrunde liegen. Der Neurologe Vilayanur S. Ramachandran ist der Überzeugung, dass sich alles neurobiologisch erklären lässt. Mit seinen „acht Gesetzen des Kunsterlebens“ – in denen sich auch die Gestaltgesetze wiederfinden – versucht er Gesetzmäßigkeiten zu definieren, die wichtig sind für das Erleben von Kunstgenuss. Ob es wünschenswert ist, Kreativität und Schönheitsempfinden zu entzaubern, indem der Mensch weiß, welche Synapsen und Hirnwindungen dafür feuern und verschaltet sein müssen?

Insekten gehören auf den ersten Blick vermutlich nicht zu den TOP 10 der Schönheitsfavoriten. Doch beim Betrachten der Details lassen sich tolle Kompositionen entdecken.

Gut fürs Überleben

Evolutionspsychologen sind davon überzeugt, dass bestimmte ästhetische Vorlieben angeboren und entstanden sind, weil sie in der menschlichen Entwicklungsgeschichte Vorteile boten. Hier ein paar Beispiele, die von den meisten Menschen als schön empfunden werden:

  • Das Kindchenschema? Aktiviert die Schutzbereitschaft und sichert so das Überleben der Nachkommen.
  • Savannenähnliche Landschaften? Bieten Schutz und Wasser, Nahrung und Jagdmöglichkeiten: Garant für das Überleben.
  • Jugendliche Körper, gut proportioniert und möglichst symmetrisch? Spricht für Gesundheit, gute Gene und starken Nachwuchs.

Diese Überlegungen, die Schönheit in unserem biologischen Programm verorten, führen zu einem spannenden Schluss: Schönheit wäre dann das, was zweckmäßig, vernünftig und sicher ist. Also damit eher das Durchschnittliche und nichts das, was uns innehalten und Umwege gehen lässt.

Schönheit und individuelle Erfahrungen

Die zweite Erklärungsmöglichkeit, wann etwas als schön wahrgenommen wird: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Sie hängt damit ab von seinen Erfahrungen und Vorlieben, von seiner Bildung, seinem kulturellen Hintergrund und dem, was ihm vertraut ist.

Bekanntes, möglichst einfach

Wir empfinden eher das als schön, was wir kennen. Vielleicht liegt das daran, dass Vertrautes die Wahrscheinlichkeit vermindert, böse Überraschungen zu erleben – ein klarer Überlebensvorteil. Dies ist vermutlich ein Grund dafür, dass Neuerungen häufig eine Zeit brauchen, bis sie von vielen Menschen akzeptiert und für gut befunden zu werden, ein Phänomen, das etwa in der Modewelt hinlänglich bekannt ist. Und: Befinden wir uns auf vertrautem Terrain, fällt es uns leichter, auch etwas Neues zu akzeptieren. Bestes Beispiel: Influencer, die ihren Followern krude Dinge schmackhaft machen können, an denen sie sonst naserümpfend vorbeilaufen würden.
Schön empfinden wir auch das, was leicht verständlich ist – was etwa beim Design von Benutzeroberflächen oder Informationsgrafiken eine wichtige Rolle spielt. 

kunstreiche Kunst erleben. Künstlerin in Galerie. Fotografin: Susanne Mölle
Regelmäßig Kunst anzuschauen, kann das ästhetische Empfinden verändern.

Laien versus Experten

Auch dazu, wie Kunst wahrgenommen wird, gibt es Untersuchungen. Diese zeigen, dass es tatsächlich einen Unterschied macht, ob jemand Kunst anschaut, der das nie oder gelegentlich tut, oder ob es Fachleute sind, die es gewohnt sind, regelmäßig Kunst zu bewerten, auszusuchen, sich damit zu umgeben. Der Otto-Normal-Verbraucher fühlt sich zu ansprechender, positiver Kunst hingezogen und bevorzugt Symmetrie. Experten dagegen scheinen zu mögen, wenn sich auch asymmetrische Komponenten hinzugesellen und haben weniger Probleme, auch visuell anstrengende, provokante Arbeiten als ansprechend zu empfinden. Möglicherweise ist das auch einer der Gründe, warum mancher Laie kopfschüttelnd vor Exponaten steht, die in der Kunstwelt hochgelobt werden.

Schönheit ist Lebendigkeit

Hier eine schnurgerade Straße mit eintönigen Betonblöcken mit Büroräumen aus 20 Jahren Baukultur, dort eine gewundene Allee mit einem bunten Mix unterschiedlichster Gebäude und Angebote von Café, Buchladen bis Flohmarkt – was wirkt wohl anziehender? Vielfalt und Abwechslung lassen uns lebendiger fühlen. Zwar hat auch die Architektur der ersten Straße ihren ästhetischen Reiz, etwa in der Schwarz-Weiß-Fotografie, bei der die Komposition von Linien und Flächen, Licht und Schatten im Mittelpunkt steht. Doch das Gefühl „Hach ist das schön hier“ – das entsteht wohl eher in den verwinkelten Gassen einer Altstadt, in denen an jeder Ecke neue Entdeckungen auf uns warten und deren maroder Charme Geschichten erzählt.

Doch Schönheit in der Architektur ist mehr als nur Selbstzweck. Zahlreiche Projekte zur Stadtbildverschönerung auf der ganzen Welt zeigen, dass es für die dort lebenden Menschen die Lebensqualität verbessert, den Zusammenhalt fördert und die Kriminalitätsrate verringert – kurz: Die Menschen glücklich macht.

Darf Kunst schön sein?

Die schönen Künste (beaux arts) – dazu zählen traditionell neben der Malerei auch die Bildhauerei, Musik, Dichtung, Tanz, Architektur und die Rhetorik. Doch dieser Bezeichnung und allen oben beschriebenen Argumenten zum Trotz wird Schönheit heute vielfach in einen Topf geworfen mit Oberflächlichkeit, mit Banalität. Oder auch mit überflüssigem Zierrat. In der Kunst haftet ihr schnell der Geruch von Gefälligkeit an. Ist etwas dekorativ, kann es keine Kunst sein (und umgekehrt). „Hotel- oder Restaurantkunst“, so wird abwertend von Bildern gesprochen, die dort hängen und somit einer breiten Masse gefallen.

Persönliche Fragen …

Das bringt mich als Künstlerin immer wieder in eine Zwickmühle: Kann ich etwas erschaffen, was schön ist? Darf ist das überhaupt? Ist Schönheit oberflächlich? Muss ich politisch, feministisch, performativ, konzeptionell sein, um als Künstlerin akzeptiert zu werden? Wie hoch ist die Gefahr, dass etwas gefällig ist, dekorativ? Was bedeutet das überhaupt genau? Und ist das wirklich schlimm? Nehmen wir beispielsweise ein Bild des von mir sehr verehrten William Turner. Landschaften, in denen ich das Salz des Meeres schmecke, den Sturm heulen höre, die Kälte des Wassers spüre. Oder die mich mit ihren zarten entmaterialisierten Luft- und Lichtstimmungen magisch einspinnen. Ich würde mir solch ein – wunderschönes – Bild sofort an die Wand hängen. Fände es hochgradig dekorativ, weil es meine Wohnumgebung verschönt. Ist es deshalb schlechte oder keine Kunst? Wohl kaum. 

… und mögliche Antworten

Vielleicht nähere ich mich hier der Antwort auf die Frage, was Schönheit ist. Was macht ein Bild schön? Schönheit ist für mich mehr als Gefälligkeit. Und es ist auch mehr als pure Handwerkskunst. Ein schönes Kunstwerk hat etwas, was nicht ganz glattgebügelt ist. Es enthält ein Geheimnis, eine Irritation. Eine Rätselhaftigkeit, die Geschichten erzählt und das Gehirn des Betrachtenden dazu animiert, sich selbst welche auszudenken, Erklärungen zu finden – zumindest dann, wenn es auch ihm Vertrautes enthält, an das sein Gehirn andocken kann. Ein schönes Bild zeigt nicht nur, sondern regt an, setzt etwas in Gang. Und berührt so den Menschen auf einer ganz persönlichen Ebene. Deshalb gefällt nicht jede Kunst jedem Menschen.

Als Künstlerin habe ich keine Angst vor Schönheit. Auch wenn es objektive Kriterien zu ihrer Bewertung gibt, wohnt ihr aus meiner Sicht etwas inne, das sehr viel mit individuellem Empfinden und ästhetischen Vorlieben zu tun hat. Wenn Kunst dem einen gefällt, dem anderen nicht, kann sie auch nicht gefällig sein. Mir tut es gut, ein für mich schönes Bild zu malen. Das ist das einzige Kriterium, was für mich im Schaffensprozess zählt. Und wenn es am Schluss auch andere Menschen anspricht, ist das ein besonderes Geschenk.

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Weitere Blogartikel:

Zum Weiterlesen:

  • Sagmeister & Walch: Beauty. Verlag Hermann Schmidt, 2018. Buch, das begleitend zur gleichnamigen Ausstellung erschienen ist, die an verschiedenen Orten weltweit gezeigt wurde
  • Wenzel M. Götte: Eiszeitkultur. Auf den Spuren menschlicher Entwicklung zwischen Schwäbischer Alb und Almira, Chauvet und Lascaux. Verlag Freies Geistesleben, 2019
  • Konrad Paul Liessmann: Schönheit. UTB, 2009
  • Ulrich Renz: Schönheit – eine Wissenschaft für sich, Berlin, 2006
  • Henry Bernhard: Warum wir etwas schön finden. Deutschlandfunk, 24.04.2014
  • Auf das Schöne darf man nicht verzichten: Im Gespräch mit Michael Köhlmeier über sein Buch „Das Schöne. 59 Begeisterungen“. Deutschlandfunk, 9.10.2023

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6 Kommentare

  1. Liebe Dagmar,
    du schreibst, Kunst regt etwas an, dem kann ich zustimmen. Kunst kann eine schöne Seite in uns berühren, eine harmonische, eine die positiven Gefühle weckende Ausstrahlung haben. Kunst kann „anstößig“ sein, vielleicht von Beuys das Fett in einer Ecke, welches ranzig wird. Das ist nicht schön: aber Fett bedeutet Zukunft: der Mensch hat in seinem Leib immer Fett, das er braucht um in die Tat zu kommen, es verbrennen können. Also „anstößig“ heißt, es stößt im Menschen etwas an, so auch die „schöne Seite“. Oder?
    liebe Grüße
    Eva

    Antworten
    • Ja, genau. Schönheit und jemanden berühren/anstoßen, kann zusammengehen, muss aber nicht. Bewertungen und Gefühle auf etwas haben immer etwas mit dem persönlichen Erfahrungsschatz und Gefühlsleben zu tun. Interessanterweise hat sich gerade auf Instagram zu einem Bild von mir eine ähnliche Diskussion entsponnen – mein Gegenüber brachte Edvard Munch (Der Schrei) als Bespiel so wie du Beuys mit seiner Fettecke. Ich persönlich finde wichtig, dass Kunst etwas anstößt, egal was. Nur schön = dekorativ = keine Kunst (zumindest für mich).

      Antworten
  2. Liebe Dagmar, na super! Eigentlich wollte ich heute schön bequem und ohne groß nachzudenken durch den Tag baumeln – nun habe ich diesen Artikel gelesen und DENKE NACH: Was finde ich persönlich eigentlich schön? Warum sprich mich ein Bild an und ich könnte Stunden davor verbringen und das andere lässt mich achselzuckend vorbeigehen? Sehr spannend! Danke für die Anregungen!

    Antworten
    • Liebe Irina, „durch den Tag baumeln“ kannst du trotzdem. Das sind nämlich schöne Gedanken, die du da gerade denkst. Super, dass ich dir da einen Stupser geben konnte. Jetzt kannst du nicht nur baumeln, sondern hin- und herschaukeln.

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  3. Liebe Dagmar, da ist dir ein spannender und kompakter Artikel gelungen., der so verschiedene Aspekte beleuchtet.
    Wann begeistert mich ein Bild? Ich muss reingezogen werden von den Farben und Formen und immer wieder Neues entdecken.
    Und genau dieses Gefühl lösen deine Bilder bei mir aus.
    LG Birgit

    Antworten
    • Danke, das freut mich total. Es ist sehr schön und berührend, wenn die eigene Kunst das schafft.

      Antworten

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