Kunst ist frei. Kunst darf Dinge sagen, die weh tun, sie darf den Finger auf Schmerzpunkte legen, zuspitzen und polarisieren. Sie darf provozieren und zum Widerstand aufrufen. Kunst kann als Hofnarr agieren und warnend den Finger erheben. Sie darf und kann vieles. Aber muss sie das? Muss Kunst eine politische Dimension haben?
- Die Gedanken sind frei. Doch erst im Gespräch können andere Menschen sie verstehen
- Zuhören, statt sich in Stellung zu bringen
- Meine persönlichen Erfahrungen – eine Kindheit in der DDR
- Demokratie: miteinander und füreinander
- Die Demokratie schützen: nicht gegen, sondern für etwas zu sein
- Fazit
- Nachtrag: Kommentare und meine Antworten
In den letzten Monaten hat sich hier in der Region eine Gruppe Kunstschaffender zusammengefunden, die unterschiedlichste Bedürfnisse und Ziele haben. Viele davon kannten sich vorher nicht, und die Anzahl der Beteiligten ist mittlerweile wirklich eindrucksvoll. Was uns verbindet, ist die Kunst und das Bedürfnis, damit sichtbar zu sein.
Unter diesem gemeinsamen Label – Kunstschaffende Lindau – haben wir in kürzester Zeit eine Pop-up-Ausstellung im Stadtzentrum auf die Beine gestellt. Wir haben von den Besitzern eines leerstehenden Ladens das Vertrauen bekommen, dass wir diesen temporär gut nutzen. Unsere Werke wurden von einer vierköpfigen Hängekommission aus unserer Reihen aufgehängt, wir vertrauten darauf, dass sie diese Herkulesaufgabe (rund 100 Werke von 26 Kunstschaffenden) gut hinbekommt und allen gerecht wird. Wir schafften es, Aufsichtslisten zu erstellen, ein Plakat zu machen, Zeitungen zu informieren und in den sozialen Medien unsere Aktion bekannt zu machen. Bereits am ersten Tag lag die Gästezahl im dreistelligen Bereich.
Ein Kraftakt und kleines Wunder, auf das alle Beteiligten stolz sein können. Ich jedenfalls habe mich extrem darüber gefreut und war sehr dankbar. Viele Gäste haben uns bereits positives Feedback gegeben, mit dem Kulturamt Lindau stehen wir in wertschätzendem Kontakt. „Kunst verbindet und berührt“ – ich dachte, dass hätte sich wieder bestätigt. Ich hatte mich getäuscht.
Die Gedanken sind frei. Doch erst im Gespräch können andere Menschen sie verstehen
Auslöser der Diskussion war ein Aufkleber, ein politisches Statement gegen die AFD. Dieser klebte zunächst auf dem Tisch, auf dem von allen Teilnehmenden ein Din-A4-Blatt mit Informationen lagen, später dann auf dem Lebenslauf der Initiatorin. Ein anderer Teilnehmer war nicht einverstanden damit, dass im Rahmen unserer Ausstellung politische Statements abgegeben werden. Daraufhin wurde es schnell laut, rau und emotional. Es wurde gefragt, ob man keine politische Meinung habe, unversöhnlich standen sich die verschiedenen Positionen gegenüber. War man nicht mit der Aktion einverstanden, stand man politisch auf der „anderen Seite“; spätere Versuche zu vermitteln, wurden als esoterische Auseinandersetzungen mit dem inneren Kind abgetan.
Beim nächsten Gruppentreffen sprachen wir über dieses Geschehen. „Die Kunst ist frei“, „Kunst ist politisch“, „Recht auf Meinungsfreiheit“ – diese Argumente wurden genannt. Es war schwierig, die Diskussion wieder auf eine Metaebene zurückzuführen. Wegzukommen aus der inhaltlichen Diskussion über das Statement des Aufklebers, sondern darüber zu reden, wie angemessen es ist, ein politisches Statement (oder andere Gesinnungen) zu positionieren – in einer Gruppe, die sich ganz neu gefunden hat, in der es bis zu diesem Zeitpunkt nur darum ging, in Bezug auf die Kunst sichtbar zu werden. Und in der noch nie darüber diskutiert worden war, ob und wie sie politisch auftreten kann und will.
Ich wollte gern darüber sprechen, ob es angemessen ist, sich in solch einem Rahmen ohne Rücksprache mit der Gruppe politisch zu äußern. Ich finde, dass es durchaus einen Unterschied gibt zwischen politischer Kunst (und der Kunstfreiheit, also dem Recht auf künstlerische Auseinandersetzung mit jeglicher Art von Inhalten) und dem politischen Statement des Künstlers/der Künstlerin. Doch das wurde in einen Topf geworfen. Sich irritiert zu zeigen durch einen Anti-AFD-Aufkleber wurde nicht wahrgenommen als Irritation gegenüber des selbstermächtigten politischen Statements im Rahmen einer künstlerischen Gruppenausstellung, sondern als Positionierung auf der Gegenseite.
Zuhören, statt sich in Stellung zu bringen
Ich war irritiert. Zu einer Demokratie, die es immer lohnt zu verteidigen, gehört das Zuhören. Die Hinwendung und Offenheit, andere Positionen anzuhören und auch eigene Meinungen infrage zu stellen. Ich habe ein Problem mit dem selbstgerechten „Ich finde, das und das ist richtig und alle, die das anders sehen, sind auf der anderen Seite,“ Demokratie bedeutet aus meiner Sicht nicht, abgeschlossene Statements abzugeben. Sondern ins Gespräch zu kommen. Zu versuchen, andere Menschen und ihre Beweggründe zu verstehen. Nicht ein „ich habe Recht“, sondern eher ein „Ich sehe das momentan so aus diesem und jenen Grund. Aber möglicherweise habe ich noch nicht alle Aspekte gesehen und berücksichtigt.“
Warum muss die Deckungsmenge der Meinungen gleich sein? Warum kann ich nicht akzeptieren, dass es viele Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß gibt? Warum werde ich direkt in eine Ecke gestellt, wenn ich versuche, auch Argumente für oder gegen etwas zu finden bzw. Dinge von allen Seiten zu beleuchten?
Meine persönlichen Erfahrungen – eine Kindheit in der DDR
Ich bin in einem zutiefst undemokratischen Staat groß geworden, auch wenn er von sich selbst als „demokratische Republik“ sprach. In einem Staat, in dem ich von klein an gelernt habe, dass man aufpassen sollte, was man wem erzählt. In einem Staat, in dem Verwandte, Ehepartner, Freunde sich gegenseitig bespitzelten. Ich habe Jahre später unsere Stasi-Akten gelesen, weiß also, dass wir nach dem Stellen unseres Ausreiseantrags ständig überwacht wurden. Wenn wir weggefahren sind, habe ich hinter der Wohnzimmertür kleine Objekte positioniert, bin durch die Durchreiche auf die andere Seite gekrabbelt und habe nach unserem Zurückkommen geprüft, ob die Dinge noch am gleichen Platz sind – mein Vater war überzeugt, dass unsere Wohnung in unserer Abwesenheit durchsucht wird.
Ein Staat, in dem ich als 7-Jährige in der Schule vor dem Rektor und einem Stasi-Mitarbeiter unterschreiben musste, dass ich wirklich mit meinen Eltern nach Westdeutschland ausreisen will. Ein Land, das wir – nach vierjährigem Warten auf gepackten Koffern – plötzlich innerhalb von 24 Stunden verlassen mussten. Ein Staat, in dem Menschen, die nicht wählen gehen wollten, weil sie wussten, dass die Wahl eine Farce ist, von Staatsbeamten aus der Wohnung zur Wahlurne gezerrt wurden.
Ich war fast elf, als wir „in den Westen“ übersiedelten. Und bereits da habe ich gemerkt, wie anders sich eine demokratische Gesellschaft anfühlt. Nicht den Mund halten zu müssen, keine falschen Einträge im Jugendlexikon zu lesen. Verschiedene und differenzierte Berichterstattungen in Fernsehen und Zeitung, sich eine eigene Meinung bilden und diese auch vertreten zu dürfen. Ich bin froh, in einem der wenigen Länder auf dieser Welt zu leben, die demokratisch sind. Das bedeutet nicht, dass alles gut läuft und dass nicht noch viel Luft nach oben wäre. Aber es bedeutet Meinungsvielfalt, keine Angst vor Repressalien, wenn ich sage, was ich denke. Es bedeutet Gewaltenteilung, Gleichberechtigung, Pressefreiheit, verbriefte Grundrechte. Und vieles mehr.
Demokratie: miteinander und füreinander
Für mich ist es extrem wichtig, unsere Demokratie zu schützen. Dafür ist ein Diskurs notwendig, die Offenheit, verschiedene Meinungen anzuhören und auch zu respektieren. Wir brauchen Brückenbauer, Menschen, die nach Lösungen suchen, statt nach Fehlern und Schuldigen – da zitiere ich gern die kluge Journalistin Dunja Hayali aus ihrer Dankesrede bei der Verleihung des blauen Panther Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten im Oktober 2023.
In unserem Fall hätte ich mir gewünscht, dass nicht das Statement „Kunst ist politisch“ in den Raum gestellt worden wäre (das sich wie ein Schlusspunkt anhört). Sondern Fragen wie z.B. „Muss Kunst politisch sein?“ Dann wäre ein Austausch entstanden und es hätten sich vielleicht auch Menschen geäußert, die anderer Meinung sind. Vielleicht hätten wir diskutieren können, ob und wie sich zwischen politischer Kunst und den Kunstschaffenden, die sich politisch positionieren / agieren unterscheiden lässt (und ob das nötig ist).
So wäre auch Raum entstanden für ein wirkliches Verständnis füreinander. Dann hätte ich meine Meinung äußern dürfen, dass Kunst eine Menge kann, aber nicht zwingend politisch sein muss. Dann hätte ich darüber sprechen können, warum ich persönlich solch eine Aktion als selbstgerecht und übergriffig empfinde. Warum ich mich überrannt und instrumentalisiert fühle, wenn wir uns als Gruppe nach wochenlanger Vorarbeit für die Kunst plötzlich in einem Kontext und einer Diskussion politischer Aussagen befinden. Warum ich es als unpassend empfinde, ohne Absprache einen Sticker mit politischer Aussage in einem Ausstellungskontext zu positionieren – wohlgemerkt nicht auf der eigenen Kunst, sondern auf dem Tisch, auf dem die Lebensläufe aller teilnehmenden Künstler:innen liegen.
Ich hätte erzählen können, dass ich persönlich Kunst als Schutzraum empfinde und deshalb nicht willens bin, dort politisch Stellung zu beziehen (obwohl ich selbstverständlich eine politische Meinung habe). Das ist meine derzeitige Einstellung. Vielleicht hätte ich sie revidiert, vielleicht ist es heute wichtig, Kunst und Politik immer zu verbinden. Aber dafür hätten mehr Argumente ausgetauscht werden müssen.
Die Demokratie schützen: nicht gegen, sondern für etwas zu sein
Ich verstehe das Bedürfnis, die Demokratie zu schützen, aus tiefstem Herzen. Ich verstehe allerdings nicht, wenn wir dabei aus den Augen verlieren, dass die Demokratie auch dadurch geschützt wird, wie wir im kleinen Kreis und in der Gesellschaft miteinander umgehen. Wie wir uns wertschätzen, andere Meinungen ernst nehmen, eigene Fehler eingestehen. Oft im „Wir“ und nicht ständig im „Ich“ denken, also weniger „Was habe ich davon“, sondern auch „Was kann ich für die anderen tun“.
Nicht zuletzt basiert Demokratie auch auf dem Pfeiler des sozialen Miteinanders: Sich in die Schuhe des anderen zu begeben und zu versuchen, dessen Beweggründe zu verstehen, Respekt vor den anderen Menschen zu haben, sich auf Augenhöhe zu bewegen und sich in Toleranz zu üben. Hinwenden und Zuhören, statt Zäune errichten und laut schreien.
Demokratie zu leben, heißt auch, sich zu reiben, sich auseinanderzusetzen, andere Meinungen auszuhalten. Das ist ein bisschen wie in einer Beziehung, die nur dann Bestand hat, wenn jeder dafür arbeitet. Wenn man miteinander im Gespräch bleibt, den anderen nicht umerziehen will, sondern ihn versucht zu verstehen und in all seinen Stärken und Schwächen so akzeptiert, wie er ist. Empathie ist ein wichtiger Pfeiler der Demokratie.
Als ich mit meinem Sohn über die Situation sprach, gab er mir den Denkanstoß des negativen und positiven Friedens: Frieden als Abwesenheit von Krieg und Gewalt versus Frieden durch Zunahme sozialer Gerechtigkeit und den immerwährenden Versuch, aktiv eine Kultur des Friedens zwischen den Menschen, innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften zu schaffen. Also auch ein Denken nicht gegen sondern für etwas.
Aus meiner Sicht ist es auch wichtig, darüber nachzudenken, ob das Recht auf Meinungsfreiheit in jedem Setting lautstark vertreten werden muss. Nur weil man in bestimmten Kontexten seine Meinung nicht kundtut, heißt das nicht, dass man erstens keine hat, sie zweitens nicht haben darf, sie drittens nicht sagen darf, und viertens sie deshalb nicht gilt. „Der Wissende spricht, der Weise hört zu“ – diese Worte werden Jimi Hendrix zugeschrieben. Ich finde, sie sind bedenkenswert und zeitlos.
Fazit
In meinem gerade gehaltenen Vortrag über Stille habe ich gesagt, dass diese nötig ist, um Zuhören zu können, Graustufen zu sehen und das Leise zu hören. Vielleicht mache ich mit meinen „stillen Werken“ sogar doch eine Form politischer Kunst, ohne mir bisher darüber im Klaren gewesen zu sein.
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Links
- Mein Plädoyer, Stille mehr Raum in unserem Alltag zu geben: Die Kunst der Stille
- Kritik auszuhalten, ist nicht einfach: Kritik an meiner Kunst – wie ich damit umgehe
- Manchmal bin ich noch nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt noch Kunst machen darf: Die Welt geht den Bach runter
- Ein lesenswerter Artikel von Thomas Krüger, dem Präsidenten der Bundeszentrale für politischen Bildung von 2019: Wie politisch sollten Kunst und Kultur sein?
- Franz Josef Czernin bei Matthes & Seitz Berlin: Ist Kunst politisch?
- Musiktheaterdramaturgin Frederike Krüger im Gespräch mit Yvonne Pörzgen, Professorin für Slavistik an der Ruhr-Universität-Bochum: „An dieser Debatte wird wieder deutlich, dass Kunst immer politisch ist“
- Tolles Feature zum Thema auf ARTE: Twist – Gefahr von extrem rechts: Freiheit auf dem Spiel?
- Auch spannend – die Frage anders herum gestellt: Kann Kunst unpolitisch sein?
- Na verwandt mit der Frage der politischen Positionierung: Soll Kunst mit dem Fortschritt gehen
Nachtrag
Auf einer anderen öffentlichen Plattform wurde mein Artikel kommentiert. Da ich dies ein gutes Beispiel dafür finde, wie komplex diese Art von Diskussionen sind, möchte ich diesen Kommentar und meine Antwort darauf hier noch ergänzen.
Kommentar von einer Leserin:
Es wäre ein Armutszeugnis für die Kunst, müsste sie zwingend politisch sein. Wie du selbst geschrieben hast, kann und darf sie viel mehr. Unsere Pop-Up-Ausstellung ist ja auch sehr vielseitig und thematisch unpolitisch.
Ich kann deine Gedanken gut nachvollziehen. Die beschriebene Reaktion und auch weitere ausgrenzende Reaktionen innerhalb der Künstlergruppe sind in der heutigen Zeit nicht ungewöhnlich. Das ist unter anderem der derzeitigen Politik geschuldet. Alles nach dem Motto: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und muss bekämpft werden.“ Wir kennen das aus der DDR. Ich hätte nie gedacht, dass es wieder so weit kommen würde. Einige Schlagwörter von damals, wie Solidarität und Demokratie, tauchen heute wieder dominant auf. Sie werden genauso schäbig instrumentalisiert wie einst. So sind die von der Regierung und NGOs angeschobenen Demonstrationen für Demokratie nicht viel mehr als ein Kampfmittel gegen Opposition und unbequeme Meinungen. Leider ist auch Dunja Hayali eine Scheindemokratin. Ich habe einige ihrer Interviews gesehen, die zeigen, dass sie ungewünschte Meinungen gerne in die rechte Ecke manövriert.
Mittlerweile gehe ich sportlich mit diesem Framing um. Wenn heutzutage der Wille für Frieden, Selbstbestimmung und echte Demokratie als rechts abgestempelt wird, bin ich eben rechts. Vielen Leuten ist noch nicht bewusst, wie weit der Demokratieabbau bereits fortgeschritten ist, weil entsprechende Informationen nur mühsam zu finden sind, oder diese durch Vorurteile gemieden werden. Andere trauen sich aus Angst vor Repressalien nicht mehr, ihre Meinung zu äußern. Wieder andere sehen keinen Anlass zu hinterfragen, weil es ihnen bisher an nichts fehlt. Die Geschichte scheint sich ständig zu wiederholen, doch leider ohne Lerneffekt.
Hierbei könnten Künstler durchaus eine verantwortungsvolle Rolle übernehmen. Allerdings sind dafür die Mittel der darstellenden Kunst besser geeignet. Bisher überwiegen jedoch (die von einem Kommentator erwähnten) propagandistischen Statements aus der Kunstszene. Die wenigen anderen Stimmen werden vehement unterdrückt und sanktioniert. Und immer wieder lässt die DDR grüßen.
Es liegt nur an uns selbst, ob wir die echte Demokratie erschaffen und die Meinungsfreiheit noch retten können.
Meine Antwort darauf
Danke, dass du dir Zeit für eine Antwort genommen hast. Allerdings hinterlässt mich diese ratlos. Du sprichst so viele Punkte an – das alles auseinander zu dröseln, ist schwierig. Deshalb picke ich mir im Folgenden zwei raus, um darauf einzugehen.
1. „Wenn heutzutage der Wille für Frieden, Selbstbestimmung und echte Demokratie als rechts abgestempelt wird, bin ich eben rechts.“ – Das verstehe ich nicht. Entweder ist das eine Selbstverständlichkeit oder ein Paradoxon:
Die Parteien rechts und links der Mitte sind alle unserem Grundgesetz und der Menschenrechtscharta der UN verpflichtet – und damit demokratisch, antirassistisch, für die Gleichheit und Würde des Menschen, unabhängig von Geschlecht, Rasse und Religionszugehörigkeit. Wenn man also eine eher rechts positionierte Partie wie die CDU wählt, entscheidet man sich für eine demokratische, rechtsstaatliche Partei.
Anders sieht es aus meiner Sicht mit extremistischen Gruppierungen aus – egal ob rechts oder links auf dem Spektrum angesiedelt. Eine Partei wie die AFD, die es zulässt, dass Mitglieder Parolen wie „Wer Homosexualität auslebt, dem droht dafür eine Gefängnisstrafe … Das sollten wir in Deutschland auch machen!“ (Andreas Gehlmann)“, „Das Pack erschießen oder zurück nach Afrika prügeln.“ (Dieter Görnert), „Ich wünsche mir so sehr einen Bürgerkrieg und Millionen Tote. Frauen, Kinder. Mir egal. Es wäre so schön. Ich will auf Leichen pissen und auf Gräbern tanzen. (Marcel Grauf)“ oder auch „Jede Frau kann machen was sie will. Im Schnitt muss sie allerdings 2 Kinder bekommen. Das geht ohne Full-Time-Job leichter.“ (Andreas Wild) zulässt, ist in meinen Augen zutiefst antidemokratisch.
Dies in einem Atemzug zu nennen mit „Wille für Frieden, Selbstbestimmung und echte Demokratie“ ist so paradox wie der „antifaschistische Schutzwall“ der ehemaligen DDR, bei dem die Antifaschisten einreisen durften, die zu schützenden Bürger aber nicht ausreisen.
2. Du schreibst: „Alles nach dem Motto: ‚Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und muss bekämpft werden.‘ Wir kennen das aus der DDR. Ich hätte nie gedacht, dass es wieder so weit kommen würde.“
Ich weiß nicht, wen du mit „uns“ meinst. Ich weiß aber, dass ich nie gedacht hätte, dass es wieder so weit kommen würde, dass es salonfähig ist, antirassistische, diskriminierende, hasserfüllte und menschenverachtende Parolen von sich zu geben und den Holocaust zu relativieren, zu verniedlichen oder satirisch zuzuspitzen. „Das große Problem ist, dass man Hitler als das absolut Böse darstellt“, so Björn Höcke.
„Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und muss bekämpft werden“ – das war ein Motto der Nationalsozialisten im 3. Reich und vermutlich einer der Gründe, warum so viele Menschen Angst hatten und weggeschaut haben, statt etwas gegen das unmenschliche System zu tun.
Und das ist genau die Meinung, die heute von der AFD (wie von anderen Extremisten) gefeiert wird. Ein Beispiel? André Poggenburg, der ehemalige AFD-Scharfmacher, hat politisch anders Denkende als „Wucherung am deutschen Volkskörper“ bezeichnet, also Menschen die anders denken, mit einem Krebsgeschwür verglichen – und ihnen damit nicht nur ihre Denkfähigkeit, sondern überhaupt das Menschsein abgesprochen. Oder, ein anderes Beispiel, Alexander Gauland, der in seinem Buch „Anleitung zum Konservativsein“ von zwei kulturellen Milieus spricht – einem liberal individualistischen, das sich für Zuwanderung, die Anerkennung von homosexuellen Lebensgemeinschaften und jede Art von Selbstverwirklichung ausspricht, und einem wertkonservativen mit einer Identität, die gespeist wird aus festen moralischen Prinzipien und abendländischen Traditionen. Schwarz und Weiß und nichts dazwischen – ein Gegensatzpaar, bei dem klar ist, wer aus AFD-Sicht auf der „richtigen“ Seite steht.
Mir macht es große Sorge, dass es mittlerweile normal ist, andere Menschen zu diffamieren, hasserfülltes Vokabular zu benutzen, zu hetzen und zu polarisieren. Das gefährdet die Demokratie. Weil diese auf dem Grundpfeiler des konstruktiven Miteinanders, Toleranz und der Achtung voreinander beruht. Wenn Parteien und Menschen an diesen Grundpfeilern sägen, ist unsere Demokratie und Freiheit in Gefahr. Und unsere Menschlichkeit.
Liebe Dagmar,
das ist ein wundervoller Artikel und ich möchte Dir gerne dafür danken. Du hast so treffende Worte gefunden für einen Zeitgeist, der wie eine Epidemie um sich greift. Es scheint, als gäbe es nur noch für oder gegen. Nur noch ein Richtig oder Falsch. Mir fehlen die Schattierungen, die Abstufungen, das Bunte und Lebendige.
In meiner Coachingpraxis mehren sich die Probleme von Paaren oder auch Familien und Freunden, wo genau dieses „bist du nicht für mich, dann bist du gegen mich“ – hochbrisant Thema ist.
Ich wünsche mir so sehr, dass wir wieder ein Miteinander und ein WIR in unserer Gesellschaft finden. Auch deswegen finde ich Deinen Artikel so unglaublich lesenswert. Ich hoffe sehr, dass er sich verbreiten wird.
Herzliche Grüße
Sylvia
Liebe Sylvia, danke dass du dir Zeit für deine Rückmeldung genommen hast. Es scheinen tatsächlich viele so zu empfinden, ich habe auch schon etliche mündliche Rückmeldungen bekommen. Ich wünschte wir wüssten, wie wir das „wir“ wieder mehr zu einem Teil unseres Lebens und unserer Gesellschaft machen können… Herzliche Grüße, Dagmar
Liebe Dagmar, vielen Dank für deinen Artikel. Ich finde die Fragen, die du aufwirfst, sehr interessant, auch wenn ich tendenziell zu einem anderen Schluss komme.
Kunst muss natürlich nicht explizit politisch sein. Allerdings ist sie meiner Meinung nach auch niemals ganz frei von Politik. Ich spreche dabei nicht von Macht- oder Parteipolitik. Ich spreche von der Politik, die formt, in was für einer Gesellschaft wir leben. Und davon erzählt Kunst eigentlich immer, egal, was sie zeigt.
Mich hat sehr beeindruckt, was du über deine Kindheit in der DDR geschrieben hast. Und du hast sie in diesem Zusammenhang ja erwähnt, um zu verdeutlichen, woher (auch) deine Haltung stammt, nehme ich an. Das kann ich nachvollziehen.
Meine Eltern waren noch Kinder, als der Zweite Weltkrieg endete. Aber sie haben Teile davon noch bewusst erlebt und auch darüber gesprochen. Daraus ist meine Haltung gewachsen, dass schweigend hinzunehmen keine Option ist.
Ich verstehe, dass es dir in der konkreten Situation nicht um politische Inhalte ging. Und du hast auch recht, die Haltung: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ ist problematisch. Viel problematischer ist meiner Meinung nach aber die Haltung der „Gegenseite“. Die ist nämlich: „Wer nicht explizit gegen uns ist, ist für uns“. Das kann man, wie ich finde, auch an der Antwort aus dem anderen Forum erkennen.
Ich teile deine Ansicht, dass man andere Meinungen aushalten muss. Jedenfalls so lange diese Meinung nicht rassistisch, homophob oder auf sonstige Weise menschenverachtend ist und solange sie die Würde und Unversehrtheit jedes Einzelnen achtet und damit auch demokratisch ist. Sonst handelt es sich auch nicht um eine Meinung, sondern um eine Hassrede.
Nur: Gilt das nicht auch für einen Anti-AFD-Aufkleber? Ist diese ganze Situation nicht deshalb entstanden, weil die Meinungsäußerung eines Einzelnen nicht ausgehalten wurde?
Verliere ich, als Teil einer Gruppe das Recht meine individuelle Meinung zu äußern?
Ich weiß nicht, ob eine der Künstlerinnen oder einer der Künstler eine einführende Rede in die Ausstellung gehalten hat. Aber nehmen wir mal an, das wäre der Fall gewesen und nehmen wir weiter an, der oder diejenige hätte sichtbar ein Kreuz um den Hals getragen. Wäre die Situation genau so entstanden? Hätte das die Ausstellung zu einer religiösen Veranstaltung gemacht?
Liebe Grüße
Lea
Liebe Lea,
du hast Recht mit deinem letzten Punkt. Seit ich diesen Artikel geschrieben habe, sind ja schon wieder ein paar Tage ins Land gegangen und ich habe seitdem viel über die Situation nachgedacht und auch mit anderen darüber gesprochen. Die Frage mit dem Kreuz ist ähnlich wie die Frage, ob der Aufkleber überhaupt jemanden aufgefallen/aufgestoßen wäre, wenn sich nicht jemand so prominent dagegen positioniert hätte.
Und wie ich auch schon geschrieben habe: Vielleicht ist es heute wichtig, Kunst und Politik immer zu verbinden. Aber um mich damit wohlzufühlen, hätten zu diesem Zeitpunkt in diesem Kontext vorab mehr Argumente ausgetauscht werden müssen – ich habe mich überrannt gefühlt. Und nach vielen Gesprächen weiß ich, dass ich nicht die einzige bin, die das so empfunden hat.
Um sich rauszuhalten, dafür ist es vermutlich wirklich schon zu spät. Dieses „Wer nicht explizit gegen uns ist, ist für uns“ ist etwas, was ich keinesfalls bedienen möchte. Das ist auch eine der Gründe, warum ich diesen Artikel veröffentlicht habe. Damit bin ich schon sehr über meinen persönlichen Schatten gesprungen.