Singen ist eine eher kleine Stadt, umgeben von sanften Hügeln und noch immer geprägt von Industrie. Doch Singen bietet auch ein beeindruckendes Kunstmuseum mit wunderschönen Räumlichkeiten und überzeugenden Ausstellungen. Die Freundlichkeit der Mitarbeitenden gibt es kostenlos dazu.
Derzeit gibt es zwei ineinander verschränkte Ausstellungen: im Erdgeschoss Tuschen, Malerei, Gouachen und Fotografien von Elly Weiblen, im Obergeschoss Holzskulpturen von Rudolf Wachter. Und auf beiden Etagen sind einzelne Werke des jeweils anderen klug positioniert, eröffnen eine weitere Wahrnehmungsebene und laden zum zusätzlichen Dialog ein.
Wachter ist vor 100 Jahren geboren und 2011 gestorben, Weiblen ist Jahrgang 1950 und lebt in Korb im Remstal. So unterschiedlich die Generationen, Arbeiten und Techniken sind, so kongenial ist die Idee, beide unter einem Dach zusammenzubringen.
Elly Weiblen: Reiche Au
Ich gebe zu: Beim Lesen des Ausstellungstitels habe ich zunächst gestutzt. Geschuldet ist er dem 2021 begonnenen (und noch andauerndem) Projekt „Reichenau“, bei dem die Künstlerin sich durch die Landschaft der Bodenseeinsel zu ihren Arbeiten anregen lässt. Durch das spielerische Auslassen des „n“, entsteht nicht nur ein Leerstelle (die sich auch durch viele ihrer Arbeiten zieht), sondern die neue Kombination verweist auf das Thema Wasser – Landschaften oder feuchte Wiesen am Ufer.
Viele der in den letzten drei Jahren entstandenen Arbeiten werden hier gezeigt, doch die Faszination für Wasser, für seine Bewegung und Flüchtigkeit begleitet Weiblen schon länger durch ihr künstlerisches Schaffen. Sie ist auch in fast allen der ausgestellten Werke zu sehen und spüren.
Die Tuschearbeiten (und Gouachen) sind monochrom und still. Doch gerade durch ihre Reduziertheit (und das unprätentiöse Aufhängen mittels Stecknadeln, wodurch die Bilder beinahe zu schweben scheinen) haben sie eine Sogwirkung. In ihrer Eitempera-Malerei dagegen zeigt die Künstlerin, wie virtuos sie mit Farben und Farbklängen umzugehen vermag. Die oft ungewöhnliche Farbpalette wird mit enormer Sicherheit komponiert, je länger man die Gemälde anschaut, desto spannender werden sie. Nach einiger Zeit entfalten sie eine Raumwirkung, es formen sich Andeutungen von Steinen, Wasser, Bäumen, Himmel, Gärten. Eher innere Landschaften, da jeder Betrachter andere Bilder im Kopf entwickelt. Die Fotoarbeiten greifen das Monochrome der Tuschearbeiten auf. Sie sind Momentaufnahmen, geben nur Andeutungen, zeigen Schatten, die auf Räume verweisen und dadurch Geschichten erzählen.
Rudolf Wachter: Ich arbeite mit Holz – Das Holz arbeitet mit mir
Wie bei Weiblen ist auch der Titel bei Wachter programmatisch. Er verweist darauf, wie Wachter mit seinem Material umgegangen ist, was es ihm bedeutete, wie er zu den Werken gelangte. Das Handwerk des Schreiners und Holzschnitzens hat er in seinem Elternhaus von der Pike auf gelernt – um es dann während und nach seinem Studium der Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste erst einmal über Bord zu werfen. Vielleicht hätte er ohne diesen Zwischenschritt und dem Arbeiten mit anderen Materialien wie Bronze und Metall nicht den Weg gefunden, den er ab den 70er Jahren eingeschlagen hat: ein ganz neues, modernes Arbeiten mit Holz.
Wachters Holzskulpturen haben eine immense Ausstrahlung. Sie sind reduziert, wirken fast unfertig mit ihren groben Arbeitsspuren und Unebenheiten. Gleichzeitig sind sie interessant, ästhetisch. Das Holz wirkt warm und einladend, man spürt, dass Wachter beim Arbeiten auf die Eigenheiten des Holzstamms eingegangen ist, seinen Verlaufsrichtungen nachgespürt und auf Wuchs und Schwund des natürlichen Materials reagiert hat. Seine Arbeiten sind abstrakt und modern, doch gleichzeitig natürlich. So, als hätte er dem Holz mit seiner Motorsäge geholfen, das herauszuholen und zu zeigen, was schon ihn ihm steckte.
Seine Werke sind fast alle im Raum verortet, durch ihre Schnitte und Verschiebungen rufen sie zwingend danach, um sie herumzugehen, sie von allen Seiten zu erfahren. Jeder Blickwinkel ist anders und nur durch das Umrunden erschließt sich die Dreidimensionalität mit den Schichten, Ausschnitten, Kanten und Rundungen, Drehungen und Verschränkungen. Ein sehr sinnliches Erlebnis.
Die Ausstellung in der Gesamtschau
Bereits beim Betreten der Ausstellungsräume kann man tief durchatmen: Die großzügige Raumsituation und brillante Beleuchtung gehen mit der gezeigten Kunst eine fast magische Verbindung ein. Die roten Gemälde im ersten Teil erzeugen Energie, die großformatigen, monochromen Tuschearbeiten und zarten Gouachen leiten über zur Stille, in der sich die vermittelte Bewegung noch besser spüren lässt. Die klein- bis großformatigen, teilweise mehrteiligen Eitemperabilder mit abstrakten Farbflächen (die erstaunlicherweise ein starkes Raumgefühl erzeugen) geben kontrapunktisch Halt. Auf dem Boden liegt eine große Arbeit von Wachter, die – auch durch ihre Schattenwürfe – wie ein Echo auf die Arbeiten Weiblens wirken. Auf dem Weg zur Treppe finden sich dann auch noch Fotoarbeiten und Tonspuren, die eine weitere Facette davon zeigen, wie die Künstlerin die Welt sieht.
Auf dem Weg in die obere Etage lässt sich der Raum von der Treppe aus noch einmal fast in seiner Gesamtheit würdigen. Im Obergeschoss erwarten Wachters Holzskulpturen die Gäste ruhig und stark. Ihre Ausstrahlung ist immens. Fast wie Findlinge sind sie im Raum positioniert und man kann gar nicht anders, als sich beim Rundgang immer wieder zu drehen, um alle Blickwinkel zu erschließen. Ergänzend finden sich auch einige seiner Arbeiten (und Entwurfsskizzen) an den Wänden. Komplementär zu einer Skulptur von Wachter hängen wiederum zwei großformatige Tuschebilder von Weiblen.
Weiblen und Wachter – warum die Zusammenstellung gelungen ist
Weiblen arbeitet mit verschiedenen Techniken und Untergründen im Zweidimensionalen, Wachter ausschließlich mit Holz und immer dreidimensional. Trotzdem passen die Arbeiten aus meiner Sicht hervorragend zusammen.
Bewegung und Raum ist in beiden Œuvres ein wichtiges Thema, ebenso Natur und Abstraktion. Auch beim Arbeitsprozess finden sich Gemeinsamkeiten: Beide vertiefen sich in ihre Materialien – Wachter arbeitete jahrzehntelang nur mit den Holzstämmen, Weiblen lotet, etwa in ihren Arbeiten auf Papier, über Jahre die Möglichkeiten aus, die Tusche offeriert. Dabei reagieren beide auf die Materialien, richten ihre Arbeit danach aus, wie diese sich verhalten. Holz schrumpft und reißt, Papier wellt sich und nimmt Farbe unterschiedlich auf, beide haben Laufrichtungen, die es zu beachten gilt.
Fazit
Die Ausstellung ist ein Kleinod. Obwohl sie Bewegung zum Thema hat, bietet sie eine große Stille. Diese wiederum ermöglicht das Eintauchen in die und das Erfahren der Raumtiefe und vielschichtigen Kunst. Beide Kunstschaffenden könnten auch die Räume komplett allein bespielen. Und doch: In dieser Zusammenstellung ist das Ergebnis größer als die Summe der Einzelteile. Unbedingt empfehlenswert.
Übriges: Zu beiden Ausstellungen gibt es ein Begleitblatt in leichter Sprache – auch sehr gelungen.
„Elly Weiblen – Reiche Au“
„Rudolf Wachter: Ich arbeite mit Holz – Das Holz arbeitet mit mir“
29. Oktober 2023 bis 14. Januar 2024
Kunstmuseum Singen (Hohentwiel), Ekkehardstrasse 10
Di–Fr 14.00 bis 18.00 Uhr
Sa, So 11.00 bis 17.00 Uhr
Links
- Die Webseite des Kunstmuseum Singen
- Passend dazu: mein Blogartikel über Kuratierung am Beispiel der Fähre in Bad Saulgau
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