Lange habe ich überlegt, wie ich diesen Artikel nenne. Ich male keine Bodenseekunst. Ich sitze nicht am Ufer des Sees und bilde Wasser, Alpen und Berge ab. Die Impressionisten bewundere ich, bin aber selbst keine Plein-Air-Malerin. Und trotzdem: Ich denke, dass viele meine Werke Bodenseekunst sind.
Ich male keine realen Landschaften, sitze nie mit meiner Staffelei auf einer Wiese, am Waldrand oder am Strand. Ich zeichne nicht auf dem Markt und mische mich nicht mit einem Aquarellblock unter die Menschen in einer Stadt. Vermutlich bin ich zu schüchtern.
Die Vorstellung, dass mir während meines Schaffensprozesses ständig Fremde über die Schulter schauen, mir Fragen stellen oder über die Kunst diskutieren, stresst mich. Wenn ich male, bin ich im Flow, ganz auf mich und mein Tun konzentriert. Da kann ich nicht gleichzeitig sprechen oder Fragen beantworten, das reißt mich raus. Urban Sketching finde ich toll – kann es deshalb aber nicht machen. Und aus diesem Grund empfinde ich manchmal sogar künstlerische Weiterbildungen als eine Herausforderung.
Inspiration sammeln
Deshalb nehme ich allenfalls mein Handy oder meine Kamera mit und mache Fotos, um später meine Erinnerung aufzufrischen. Manchmal auch meinen Skizzenblock, um spontan die Eindrücke festzuhalten – doch nur dann, wenn ich allein bin. Ich tauche ein in den Moment, schaue intensiv. Höre, rieche und fühle: der Geruch des Schilfes, das in der Sonne trocknet. Das leise Murmeln des Wassers, wenn es den Kieseln Hallo sagt. Das Potpourri an Stimmen und des Autoverkehrs in einer großen Stadt. Die raue Oberfläche des angeschwemmten, in der Sonne trocknenden Baumstammes. Das intensive Gezänk der Krähen, Schnattern der Enten, unterbrochen vom Brummen eines weit oben vorbeiziehenden Flugzeugs.
Sich auf den Prozess einlassen
In meinem Atelier sage ich mir nicht: Heute male ich das Wasser des Bodensees. Oder den letzten Schnee auf den Alpen. Stattdessen beginne ich eher mit einem Gefühl. Entscheide mich vielleicht für Farben, die zu meiner Stimmung passen. Manchmal nehme ich auch einfach einen beliebigen Stift, setze spontan Zeichen auf dem Untergrund. Und schaue, wohin mich diese führen, was sich daraus entwickelt.
Ab und zu blättere ich durch meine Skizzenbücher oder Ideensammlungen, die sich auf Zetteln überall in meinem Atelier finden. Oder ich probiere eine neue Technik aus, lasse mich von Unerwartetem leiten, oder auch von den Misserfolgen. Manchmal blättere ich auch durch alte Bilder oder schaue mir Kunst von anderen an, die ich bewundere. Und überlege, was genau ich daran mag: eine bestimmte Linienführung? Die Kontraste? Die Farbpalette? Den Pinselstrich? Und dieses Detail nehme ich als Ausgangspunkt.
Und dann startet der Prozess: Ich fange spontan an, reagiere, überarbeite, schaue. Überarbeite wieder. Manchmal beginne ich auch von vorn. Am Anfang weiß ich noch nicht, was sich entwickelt. Selbst, wenn ich mit einer Idee starte, kann es passieren, dass sich diese in etwas ganz anderes verwandelt. Das ist das, was ich am Kunstschaffen liebe: völlig in das Tun einzutauchen, mich über die Überraschungen zu freuen und Pingpong mit dem Output zu spielen.
Über Unerwartetes freuen
Dann entwickeln sich aus den abstrakten Formen und ungezielten Zeichen nicht selten Landschaften. Eine Linie schleicht sich ein, die als Horizont gelten könnte. Erhebungen, die möglicherweise Berge sind. Blautöne, deren abstraktes Zusammenspiel die Assoziation von Wasser anstößt.
Nicht immer sind die entstehenden Landschaften am Bodensee verortet, auch wenn dieser mir unerschöpfliche Inspiration bietet. Auch andere Orte können sich in meinen Bildern wiederfinden – hier einige Beispiele:
- Der Besuch in Almeria und Taverna, der einzigen Wüste Europas, führte einige Wochen später zu einem Acrylbild, das ich nicht geplant hatte. Trotzdem fragten diejenigen, die diese Tour mit mir zusammen gemacht haben, ob das die Wüste sei…
- Aus einer Woche künstlerischer Auszeit am Comer See entwickelten sich Bilder, mit denen ich heute, ein Jahr später, wieder abrufen kann, wie sich die Landschaft dort anfühlte, wie das Wetter war und wie der Blick von meiner Terrasse in die Weite der Landschaft. Eines dieser Werke hat ein neues Zuhause bei einer Kundin gefunden, die meinte, es erinnere sie an den Bodensee… Auch das kann passieren – schließlich hat jeder einen anderen Rucksack an Erfahrungen und Assoziationen.
- In den zwei Wochen bei meiner Artist Residency im Kloster Dornach habe ich einige Leporellos geschaffen, in denen ich auch jetzt, einige Wochen später, die Stimmung wiederentdecke, die beim Spaziergang zum Goetheanum oder Schloss entstand.
- Bei meinem Yoga-Retreat in der Toskana im September 2022 habe ich versucht, die dort herrschende Energie in Bilder zu transformieren.
- In meiner Workation am Comer See vor wenigen Wochen habe ich auf einer Terrasse gemalt, von der ich einen atemberaubenden Blick auf den See und die Berge hatte. Auf vielen der dort entstandenen Bilder sind allerdings keine Wasserstimmungen zu sehen, sondern die Gefühle und Farben, die ich von meinen Wanderungen mitgebracht habe: Das frische Frühlingsgrün der Birken im Kontrast zum kräftigen Schwarz-Weiß ihrer Rinde. Die weichen Erdtöne in den Wäldern mit Esskastanien und Buchen. Das Grün der Wiesen, auf denen die Schafe grasten, Und das zarte Orange-Rosa der Sonnenuntergänge.
Stimmungen malen
Ich male Gefühle, keine realen Landschaften. Und so kann das Gefühl an einem See in Norditalien durchaus an einen Urlaub am Bodensee erinnern. Warum auch nicht? Schließlich fließen auch meine Erlebnisse hier in meine Kunst ein. Mein Sitzen am Ufer in der Vorsaison, wenn ich ganz allein mit dem Frühlingsblau von Himmel und Wasser bin. Das lebhafte Gewusel im Sommer. Die regenschwere, indigoblaue Gewitterfront, die im Hochsommer manchmal die Tage beendet. Der Herbst, der die Farben verschwendet und der Winter, der dann kaum noch welche übrig hat. All das nehme ich während des Jahres auf, sammle es in den Schubladen meiner Erinnerungen. Manches davon zeigt sich zeitnah auf meinen Bildern, anderes erst Monate oder Jahre später, vielleicht sogar transformiert durch die Schichten der folgenden Erinnerungen.
Fazit
Ich kann nicht steuern, welche der Impressionen vom Bodensee oder von anderen Orten in meine Kunst einfließen. Doch dass sie dort – mehr oder weniger erkennbar – enthalten sind, daran habe ich keine Zweifel. Und wie ich in einer Landschaft zur Ruhe kommen oder Energie tanken kann, vermag auch meine Kunst solche Gefühle zu transportieren.
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Ich freue mich: Mein neuer Katalog ist fertig.
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Links:
- Ich versuche beim Malen, die Eindrücke aller Sinne einzufangen. Ab und zu kreiere ich zusätzlich kleine Hörreisen – hier zum Beipiel ein Audio zum Wasser
- Inspiriert von meinem Yoga-Retreat mache ich mir hier Gedanken dazu, was Yoga und Kunst gemeinsam haben.
- Lust auf den Bodensee bekommen? Verbinden Sie das doch mit einem Besuch im schönen Lipprandt-Hotel in Wasserburg. Dort hängen derzeit einige der hier gezeigten und viele weitere Bilder von mir. Oder Sie kommen in meinem Atelier vorbei. Am Besten einen Termin per Mail vereinbaren – hier finden Sie die Kontaktdaten
- Mehr zu meiner Inspiration und meinem Prozess in meinem Künstlerportrait auf youtube
Liebe Dagmar,
was für ein schöner Blogartikel und wundervolle Bilder. Du nimmst mich mit Deinen Worten mit auf die Reise und man sieht die Welt gleich mit ganz anderen Augen, auf eine wohltuende und entspannende Art. Es regt an, immer mit allen Sinnen neugierig die Umgebung wahrzunehmen. Ich liebe es auch, draußen in schöner Natur und Landschaften unterwegs zu sein und die Stimmungen und Gerüche aufzunehmen. Toll, wie ausdrucksstark Du das rüberbringen kannst.
Herzliche Grüße,
Andrea
Liebe Andrea, hab ganz vielen Dank für deine Rückmeldung. Ich freue mich immer sehr zu hören/lesen, dass das, was ich schreibe, Menschen anspricht. Achtsam durch die Welt zu wandern, ist eines der Dinge, die wichtig sind. Dass du das auch tust, merkt man deinen Fotos an, die du von deinen Reisen postest. Liebe Grüße vom Bodensee, Dagmar