Ende August 2022: Eine Freundin fragt mich, ob ich Mitte September spontan mit zu einem Yoga-Retreat in die Toskana fahre, es ist jemand ausgefallen. Kurz überlegt ich, und sage zu. Allerdings unter einer Bedingung: Ich mache dort kein Yoga, sondern Kunst. Es kam anders als geplant: Am Ende der Woche habe ich zweimal am Tag an der Yogapraxis teilgenommen. Dazwischen hatte ich trotzdem viel Schaffenszeit für meine Kunst. Das war nicht nur sehr erfüllend für Körper, Kopf und Seele. Sondern hat mich angeregt, über die Gemeinsamkeiten von Kunst und Yoga nachzudenken.
Bereits häufiger habe ich darüber geschrieben, was Kunst mit dem Leben zu tun hat oder wie vieles aus der Kunst auf das Leben adaptierbar ist (und umgekehrt). Je häufiger ich über Parallelen nachdenke, desto mehr sehe ich. Und manchmal eben auch in Bereichen, die im ersten Moment vielleicht gar nicht so auf der Hand liegen.
Yoga mit Kunst? Yoga und Kunst!
In den letzten Jahren ist es zunehmend in Mode gekommen, Yogastunden in Museen anzubieten. Das bedeutet nicht zwingend, dass die beiden Bereiche etwas miteinander zu tun haben – Trends sind nicht immer logisch. Doch in diesem Fall bestehen durchaus Gemeinsamkeiten und Überschneidungen. Im Folgenden ein paar Überlegungen dazu.
Aufmerksam im Hier und Jetzt
Kreativ zu sein, erfordert loszulassen. Den Kopf zumindest zeitweise auszuschalten und sich ganz auf den Prozess des Tuns, auf das Hier und Jetzt einzulassen. Beim Yoga ist das nicht anders. Die Praxis beginnt mit Atemübungen, dem Spüren des Körpers und dem Loslassen der Gedanken.
Beim Malen und beim Yoga geht es um den Prozess, nicht um das Ziel. Ich reagiere auf das, was Jetzt ist, nicht auf das, was es werden soll. Sonst verkrampfe ich, komme aus meinen Flow und das Ergebnis wird definitiv nicht besser. Ich spreche da aus eigener Erfahrung: Ein Bild, bei dem ich während des Malens schon genau weiß, wie es hinterher aussehen soll (oder das ich so male, dass ich weiß, dass es Käufer findet), wird nie so gut, wie eines, bei dem ich mich ganz auf das Tun konzentriere. Dabei bleibe ich aufmerksam, reagiere auf das, was passiert. Geht es mir gut, bei dem, was ich tue? Falls ja, fahre ich fort, falls nicht, passe ich mein Tun an.
Mutig bei sich bleiben
Die Aufmerksamkeit auf sein Tun zu lenken, bedeutet, dass man sehr bewusst bei sich selbst ist und bleibt. Dabei ist es wichtig, keine Angst zu haben, etwas falsch zu machen. Stattdessen kann man auf sich selbst vertrauen, immer wieder spüren, ob sich etwas richtig anfühlt. Und falls nicht: korrigieren, ändern – in der Kunst Farben, Formen oder Komposition, beim Yoga die Atmung, Stellung, Lage oder Bewegung.
Yoga hat viel zu tun mit Loslassen und urteilsfreiem Beobachten. Mit Vertrauen in sich und den Körper und der Offenheit für Neues. Ähnliches gilt für das Kunstschaffen: Wenn ich meiner Erfahrung, meinem Wissen und gleichzeitig meinem Tun vertraue, bin ich offener für Experimente. Wenn Dinge nicht direkt so gelingen, wie ich sie mir vorstelle, bedeutet das nicht „schlecht gemacht“, sondern ist ein Impuls dafür, wie es vielleicht besser geht. Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Sondern authentisch und liebevoll mit sich selbst. Klar gibt es Grenzen – beim körperlichen Tun genauso wie bei den kreativen Fähigkeiten. Na und? Das ist menschlich und macht genau das Individuelle aus.
Immer wieder neu beginnen
Die meisten kennen das wohl: Beim Einzug in ein neues Zuhause gibt es Dinge, die am Anfang extrem irritieren: das nackte Lampenkabel, der unförmige Gaszähler mitten im Flur, die abgelaufenen Treppenstufen. Es dauert jedoch nicht lange, und unser Gehirn blendet diese Störfaktoren aus. Nur den Gästen, die zum ersten Mal zu Besuch kommen, fällt es noch auf. Wenn ich also etwas zum ersten Mal sehe, nehme ich es richtig war, danach geht es meist im Grundrauschen des Alltags unter.
In dem Moment, in dem ich meine Gedanken an Vergangenheit und Zukunft ausschalte und ganz im Jetzt bin, ist alles unbekannt. Ich begebe mich auf neues Terrain. Wenn ich keine Vergangenheit kenne, weiß ich quasi nichts und muss im Moment alles neu entdecken. Das ist gar nicht so einfach. Je älter ich werde, desto mehr Erfahrungen habe ich gesammelt. Und die rufen ganz oft „wissen wir doch schon“, „kennen wir bereits“. Doch was passiert, wenn ich immer darauf höre? Ich entdecke nichts Neues und die Gefühle sind abgestanden (weil ja bereits erlebt). Lasse ich mich aber darauf ein, mich als Anfänger zu fühlen, bin ich Forscherin. Ich spüre intensiver, sehe Dinge anders, entdecke Neues. Beim Malen genauso wie in der Yoga-Praxis.
Sich dem Fühlen öffnen
Intuition, Fühlen, Träume, Fantasie: Zu all diesen Fähigkeiten brauchen wir beim Malen einen Zugang, so denke ich wenigstens. Nur dann fließt davon etwas in das entstehende Werk. Und das wiederum eröffnet dem Schauenden die Möglichkeit, berührt zu werden. Auch beim Yoga spüren wir nach innen und lassen das raus, was sich einen Weg bahnen will. Fühlen, Wachheit und Freiheit – welch wunderbare Kombination!
In der Bewegung
Rhythmus, Wellenbewegung, Fließen – jeder, der Yoga macht, weiß, dass diese Begriffe eine wichtige Rolle spielen. Das Leben ist ständige Bewegung, und Yoga ist auch ein Versuch, das Leben zu spüren und dabei einen eigenen Rhythmus zu finden. Man wandert mit dem Strom des Atems durch den eigenen Körper, versucht zum Beispiel ganz bewusst, sich in den Rhythmus des Ein- und Ausatmen einzufinden.
Auch Kunstwerken wohnt ein Rhythmus inne, er ist wichtiger Teil der Gesamtkomposition. Sind die Bildkomponenten wie Formen, Linien und Farbe stimmig angeordnet, geben sie dem Auge Hinweise, wie es durch das Bild wandern kann, wie das Bild gelesen werden kann. Ähnlich wie in der Musik öffnet auch in der Kunst Rhythmus ein bestimmtes Assoziationsfeld.
Energie und Flow
Sich in den Prozess fallen zu lassen, sich ganz im Augenblick zu versenken, erzeugt ein Glücksgefühl. Kinder können das oft besonders gut: sich völlig in ihr Spiel zu vertiefen und mit restloser Begeisterung und gleichzeitig hoch konzentriert das zu tun, was sie gerade tun. Die Tätigkeit geht dann wie von selbst, fließt quasi aus einem heraus – deshalb auch der Begriff „Flow“ für solch einen Schaffensrausch.
Spannend dabei ist, dass man sich sehr wohl dabei fühlt, eine hohe Leistung zu erbringen, die Energie, die dabei aufgebracht wird, wird nicht als Verlust wahrgenommen.
Solch eine Harmonie zwischen Energie, Konzentration und Entspannung ist sowohl Teil des Prozesses beim Malen wie auch in der Yogapraxis. Kreative Energie ist keine Begabung, sondern wird im Tun freigesetzt. Und sie führt zur Freude und Entspannung. Der Energiefluss beim Yoga lässt sich dann harmonisieren, wenn man ganz eintaucht – und so zur Ruhe kommt.
Sich Zeit nehmen
Ob beim Malen oder beim Yoga: Für beides muss man sich Zeit nehmen. Zeit für sich selbst, dann vollständig und liebevoll bei sich sein. Doch gleichzeitig ist auch das Wir wichtig – in der Gruppe und der Welt.
In der Kunst bin ich während des Schaffensprozesses bei mir, lausche nach innen und lasse das frei fließen, was auf die Leinwand oder das Papier möchte. Doch Kunst ist erst dann richtig präsent, wenn sie auch gesehen wird und damit in einen – meist stillen – Dialog mit der Welt und den Betrachtern tritt. Ähnliches gilt beim Yoga: Einerseits bin ich Königin auf meinem Reich der Matte, gleichzeitig bin ich Teil des Raumes und der Gruppe im Raum.
Versenkung und geistige Befreiung
Ein Kunstwerk bietet mir die Möglichkeit, mich zu versenken – beim Erschaffen und beim Anschauen. In dem Moment, wo es mir, der Betrachtenden, eine Geschichte erzählt und bestimmte Gefühle auslöst, habe ich Lust, es mir länger anzuschauen, mich zu vertiefen. Das kann zu einem meditativen Zustand führen, genauso wie beim Musikhören oder Lesen guter Literatur. Und eben auch beim Yoga – auch das ist eine Möglichkeit, in den inspirierenden Zustand der Versenkung zu kommen.
Yoga ist eine Lehre, bei der es um die geistige Befreiung geht. Auch wenn das in unseren westlich adaptierten Formen oft weniger im Mittelpunkt steht als das Körpertraining, gehören auch hier Formen der Mediation und Übungen für den Geist dazu. Auch die Kunst vermag im besten Fall genau das sowohl für den Kunstschaffenden wie auch für die Betrachtenden: Impulse zum anderen Sehen der Welt.
Fazit
Sowohl in der Kunst wie auch im Yoga geht es nicht um ein definiertes Ziel, sondern um das Tun. Das Spannende dabei: Je mehr ich mich darauf einlassen kann, achtsam ganz im Augenblick zu sein und mich vom Streben nach Perfektionismus zu lösen, desto besser wird das Ergebnis auf lange Sicht sein. Nach einer Yogapraxis bin ich meist sehr entspannt und gelassen, selbst wenn die Muskeln schmerzen. Und vor allem sehr froh, im Einklang mit der Welt. Genauso wie nach dem Malen.
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Links:
- Ein Yoga-Retreat ermöglicht, sich vorübergehend aus dem Alltag zurückzuziehen. Ähnliches gilt für eine Artist Residency
- Die Kunst hat nicht nur mit dem Yoga, sondern auch mit der Kampfkunst viele Gemeinsamkeiten. Hier ein Interview mit Lucia aus Zürich
- Hier ein paar Themen, die bereits in anderen Blogartikeln vorkamen und auch für das Thema Yoga und Kunst wichtig sind: Kunst braucht Mut und In der Kunst gibt es keine Fehler! Nur Impulse
- Einer der schönsten Orte für Yoga-Reisen (und zum Malen): Das Il Convento in Lunigiana/Casola in der Toskana
- Ein paar Beispiele für Kunst und Yoga in Museen quer durch Deutschland: Albertinum/ Dresden, Haus der Kunst / München, Bucerius Kunst Forum / Hamburg, LWL-Museum, Münster
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