Kunst braucht Mut

von | 8. Juli 2022 | Ateliergeflüster

Eine Mutprobe als Kind war, sich in ein Maisfeld zu wagen, in dem die Kolben jedem von uns über den Kopf wuchsen, eine ganze Zeit hineinzulaufen und dann wieder rauszufinden. Heute gibt es professionell betriebene Mais-Labyrinthe mit verbürgter Garantie, hinaus zu gelangen. In der Kunst jedoch gibt es keine Sicherheit, erfolgreich den Weg zu finden. Wie viel Mut beim Schaffen von Kunst wirklich nötig ist, das weiß ich erst, seitdem ich täglich selbst welche mache.

  1. Was ist Mut?
  2. Wofür brauche ich Mut in der Kunst?
  3. Mut zu Entscheidungen – und zum Scheitern
  4. Mutig den Zufall willkommen heißen
  5. Der Mut, anders zu sein
  6. Der Mut zur Unsicherheit
  7. Der Mut, Geduld zu haben

Während einer aktuellen Ausstellung habe ich viele Gespräche mit meinen Gästen und Freunden geführt – über Kunst und Kreativität, Kosten und Verkauf, Vermarktung und Rückzug. Und wieder einmal ist mir klar geworden, dass Selbstständige und im Besonderen Künstler eine gehörige Portion Mut brauchen.

Mein Mann meinte, als Künstlerin sei vor allem Zähigkeit gefragt. Ich meine, ich muss auch mutig sein, um mich in einen reißenden Fluss zu trauen, von dem ich nicht weiß, ob es Untiefen, Strömungen, giftige Fische oder Schlingpflanzen gibt, wie die Temperatur in der Mitte ist und wie das Wetter wird. Selbst wenn ich schwimmen kann, brauche ich dafür eine Menge Mut. Und klar, auch eine gewisse Kondition und Durchhaltevermögen..

Was ist Mut?

Für mich bedeutet mutig zu sein, Dinge zu tun, die mir nicht leichtfallen. Mut ist nicht das Fehlen von Angst – im Gegenteil. Habe ich keine Angst vor etwas, brauche ich auch keinen Mut dazu, mich dem auszusetzen. Begebe ich mich aber in eine Situation trotz Bedenken oder Furcht, vielleicht sogar nach langem Zögern oder gegen Widerstände, dann, ja dann bin ich mutig.

Im Indogermanischen bedeutete „mo“ sich mühen, nach etwas streben, starken Willens sein – daraus wurde später der Begriff „Mut“. Deshalb mag ich die Begriffe Wagemut und Beherztheit. Das Wagnis ist darin enthalten – etwas ist unsicher und kann schief gehen. Um es trotzdem zu probieren, brauche ich Mut oder Courage (noch ein Wort, das ich gerne mag). Und ohne sich dafür ein Herz zu fassen, geht es nicht.

kunstreiche Ateliergefluester raus aus der komfortzone
Ohne Sicherheitsnetz und doppelten Boden: raus aus der Komfortzone, bereit sein für Neues (hier 5 Meter über dem Boden beim Aufbau der Ausstellung „Mut zum Gefühl“)

Mut zum Minimum

Den meisten Menschen fällt vermutlich als Erstes die unsichere finanzielle Situation ein, in die man sich als Künstlerin begibt. Selbst ein Gerhard Richter hat mit einem Preisniveau für seine Bilder angefangen, von dem er schwerlich seine Miete bezahlen konnte. Und seien wir ehrlich: Von der Kunst leben zu wollen, hat etwas von einem Kamikaze-Unterfangen. Die allermeisten Künstler bestreiten ihren Lebensunterhalt nicht nur durch den Verkauf von Bildern oder anderen Werken.

Mut zur Reduktion – während des Malens eine bewusste Entscheidung.

Anfang 2020 hat der BBK (Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler) wieder – wie alle fünf Jahre – eine Umfrage unter seinen Kunstschaffenden gemacht. An deren prekären Lebenssituation schon vor Corona hat sich in den letzten Jahren kaum etwas geändert. Hier ein paar Schlaglichter:

  • Nur eine kleine Minderheit der Kunstschaffenden lebt allein vom Verkauf ihrer Werke oder von entsprechenden Aufträgen.
  • Knapp 60 % erzielen ein Jahreseinkommen aus künstlerischer Tätigkeit unter 5.000,– Euro, knapp 35 % unter 20.000,– Euro.  
  • Viele versuchen deshalb, ihr Einkommen durch Erschließen weiterer Quellen zu verbessern. Präferenz dabei haben kunstnahe Arbeiten wie etwa eine Lehrtätigkeit (diese wird von rund 50 % der Kunstschaffenden ausgeübt).
  • Rund drei Viertel aller UmfrageteilnehmerInnen hat Einkünfte aus nichtkünstlerischen Quellen; knapp die Hälfte übt dafür auch nichtkünstlerische Tätigkeiten aus.

Warum es trotz allem noch immer so viele Menschen gibt, die versuchen, von ihrer Kunst zu leben, ist eine spannende Frage. Vermutlich ist die Antwort, dass sie sich nicht vorstellen können, OHNE Kunst zu leben.

Mut zu Entscheidungen – und zum Scheitern

Weniger offensichtlich ist, dass auch das künstlerische Tun selbst Mut erfordert. Immer wieder muss ich beim Malen Dinge zerstören, die ich mag, muss mich von etwas verabschieden, das nicht mehr taugt. Das fühlt sich manchmal an wie bei einem Job, den man seit Urzeiten ausübt, oder bei einer erstarrten Beziehung, die nur noch aus Gewohnheit existiert. Man verharrt gern in der vermeintlichen Sicherheit, in dem Vertrauten. Man weiß, was einen erwartet, und das scheint besser als etwas Neues, was vielleicht noch schlimmer ist.

Welches Fenster öffnen? Oder lieber im sicheren Zuhause sitzen bleiben?

Um zu unbekannten Ufern aufzubrechen, benötige ich Mut, schließlich kann der Versuch total in die Hose gehen. Andererseits: Ohne diese Bereitschaft, etwas Neues auszuprobieren, verharre ich im Altbewährten. Und das tötet die Kreativität. Vielleicht kennen Sie die Wallander-Krimis: Der Vater des Kommissars malt immer wieder das gleiche Bild mit dem gleichen Auerhahn – tagein, tagaus, Woche um Woche, Jahr für Jahr. Möglicherweise hat das etwas Meditatives, doch um Neues zu entdecken, taugt es aus meiner Sicht nicht. Mir wurde ehrlich gesagt beim Lesen immer ganz eng.

In Bewegung bleiben, sich quicklebendig fühlen

Beim Malen muss ich eine Beziehung zum Bild aufbauen können, verbunden mit einem Gefühl von „hier möchte ich bleiben“. Nur ein Bild, in dem ich mich zuhause fühle, mag ich an die Öffentlichkeit geben. Gleichzeitig muss ich immer bereit sein, loszulassen, weiterzuziehen, zurückzugehen.

Vielleicht ist der beschriebene Prozess – auf Dinge zu verzichten, obwohl sie sinnvoll erscheinen – vergleichbar mit dem Schreiben und dem damit einhergehenden Lektorieren. Etwas muss rausgeschmissen werden, obwohl es gut ist. Warum? Es kann an dieser Stelle und im Kontext überflüssig sein und die Klarheit zerstören. Bei drei gutaussehenden Models, die nebeneinanderstehen, weiß ich nicht, wohin ich gucken soll. Gibt es nur einen attraktiven Menschen, ist die Blickrichtung eindeutig. Wichtig ist immer die Essenz. Deshalb muss ich bereit sein, auch Liebgewonnenes zu übermalen. Der Leitspruch dafür: „Kill your Darlings“.

Suchen, überarbeiten, zerstören: Neues entdecken

Dieses Loslassen kann bedeuten, dass ich das Falsche zerstöre. Manchmal mache ich während des Malprozesses Fotos. Und wenn ich sie mir später noch einmal anschaue, passiert es durchaus, dass ich einen Zwischenstand besser finde als das Ergebnis danach. Doch das ist nicht so wichtig. Seitdem ich mich im Prozess wohlfühle, statt auf das Resultat zu schielen, nehme ich das leichter. Ich weiß, dass ich auch unbefriedigende Stadien wieder überarbeiten kann, dass ein Werk zwischendurch hässlich sein darf. Letztlich ist jeder Teilschritt nötig, um dann bei etwas zu landen, was mich erfüllt. Vielleicht könnte man diese Schichten und Einschreibungen mit den Falten im Gesicht vergleichen, die von gelebtem Leben zeugen.

Also: Ich muss auch ohne Anleitung vorwärtsgehen und das Selbstentdecken zulassen. Es gibt kein (Erfolgs)Rezept. Ich muss beim Malen Entscheidungen treffen, obwohl ich nicht weiß, ob es die richtigen sind. Ich muss diese auch immer wieder umwerfen können, den Fokus ändern. Und ich muss ertragen können, dass oft kein Ende in Sicht ist.

Ich brauche den Mut, Regeln zu brechen, Dinge anders zu tun als die meisten. Das geht nur, wenn ich bei mir bleibe und Klarheit bewahre. Dabei muss ich genau hinhören, was mein Bauch mir erzählt und was mein Kopf. Oft ist das verschieden – und mal hat der eine recht, mal aber auch der andere.

Mutig den Zufall willkommen heißen

Ich brauche den Mut, immer wieder zurückzugehen oder sogar neu zu starten. Dafür muss ich lernen, dies nicht als Niederlage zu empfinden, sondern als einen Schritt auf meinem Weg. Ich muss immer wieder sicheres Terrain verlassen, muss ausprobieren, experimentieren. Dabei weiß ich nicht, was mich erwartet, das ist die Natur eines Experiments. Ich stelle eine Frage und suche nach einer Antwort. Dabei kann ich zwar eine Idee haben, wo ich lande, aber diese Hypothese kann auch komplett falsch sein. Doch vielleicht komme ich so an einen Ort, den ich sonst nie gefunden hätte.

Man denke an Forschungen aus der Pharmaindustrie, immer wieder Zufallsbefunde oder vermeintliche Irrwege: Sildenafil, besser bekannt als Viagra, sollte ursprünglich bei Herzproblemen helfen, Penicillin war eine Überraschung in einer vergessenen Petrischale. Im Englischen gibt es dafür einen wunderschönen Begriff „Serendipity“, im Deutschen etwas sperriger „Serendipität“. Die drei Prinzen von Serendip (heute Sri Lanka) in einem Märchen reisten durch die Welt und entdeckten dabei immer wieder Dinge, nach denen sie nicht gesucht hatten. Klar gehört dazu auch eine Portion Glück – aber genauso brauchten sie den Wagemut, um überhaupt ins Unbekannte aufzubrechen.

Dem Zufall Raum geben: Das ist bei manchen Maltechniken einfacher als bei anderen. Dazu gehören Materialbilder (hier: Detail aus Geheimnisvolle Landschaft)

Der Mut, anders zu sein

Manchmal sitze ich in einer Runde, habe als Einzige Farbe unter den Nägeln und weiß gar nicht, wie ich mich beim Smalltalk einbringen soll. Ich kaue auf einem Kompositionsproblem herum, spiele Farbmischungen im Kopf durch oder denke über eine neue Idee auf Papier nach. Meine flammende Begeisterung wird dann schnell durch die kalte Dusche verständnisloser Blicke gelöscht. Wer außer mir interessiert sich schon für wunderbare Namen von Farben wie Erbsengrün, Pfirsichblüte, Cavendish-Grau oder Wörter wie Pottasche, Kalkkasein oder Eitempera? In meinem Freundeskreis zumindest kaum jemand. Vor einigen Jahren erzählte mir mein damaliger Chef von einem Künstlerfreund. Dieser stand während des gemeinsamen Essens oft plötzlich vom Tisch auf und verschwand in seinem Atelier, weil er eine neue Idee hatte, die er direkt auf die Leinwand bringen musste. Soweit ist es bei mir noch nicht, aber mittlerweile verstehe ich dieses Verhalten. Sonderlich gesellschaftskonform ist das jedenfalls nicht.

Hin und wieder besteht also die Gefahr, sich einsam zu fühlen: Weil keiner der Familienmitglieder oder Freunde versteht oder nachvollziehen kann, was man tut. Schon als Selbstständige war es manchmal schwer, mit Angestellten zu sprechen. Aber als selbstständige Künstlerin ist es manchmal richtig anstrengend.

In eine andere Richtung zu schwimmen, ist häufig nötig, um voran zu kommen.

Der Mut zur Unsicherheit

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Stellensuche. Sie schreiben eine Bewerbung nach der anderen, mit viel Energie und Zeitaufwand, genau zugeschnitten auf den potenziellen Arbeitgeber. Und dann: nichts. Entweder gar keine Antwort oder eine – mehr oder weniger nette – Absage. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Über Wochen, Monate, Jahre. Als Kunstschaffender akzeptiert man mit offenen Augen solch eine Situation. Bewerbungen für Ausstellungen, Ausschreibungen, Förderprojekte, Künstleraufenthalte. Für Zuschüsse oder Anerkennungen, die oft genug ausbleiben. Die Geldmittel und Ressourcen sind knapp, die Konkurrenz groß. Es gehört eine große Portion Mut dazu, sich dem auszusetzen, nicht an der eigenen Kunst oder ihrem Wert zu zweifeln oder schlimmer noch, am Selbstwert. Dafür benötige ich eine ganz schön dicke Haut.

Manchmal fühlen sich Erfolge nur wie Tropfen auf heißen Steinen an.

Ich darf trotzdem keine Angst vor Zurückweisung oder Fehlern aufkommen lassen. Sondern muss wagemutig bleiben, mich Kritik und der öffentlichen Meinung stellen, auch auf die Gefahr hin, dass diese vernichtend und negativ ist. Sonst besteht das Risiko, in der Gefälligkeit zu verharren, bei dem zu bleiben, mit dem ich schon Erfolg hatte. Ich darf nie vergessen: Kunst ist mehr als Dekoration. Und, manchmal das Schwerste: an die eigene Kunst zu glauben, auch wenn nur alle anderen die Erfolgsleiter emporklimmen und rote Punkte sammeln.

Der Mut, Geduld zu haben

Manchmal fühle ich mich in meinem Atelier, bei meiner künstlerischen Tätigkeit und meiner Kontaktpflege wie in einem Garten. Ich pflanze, gieße und dünge, grabe um, reiße aus, beschneide, werfe Pläne um und säe neu. Manche Samen gehen gar nicht an, andere brauchen mehrere Jahre bis aus ihnen etwas wächst. Andere entwickeln sich zu Unkraut und wieder andere werden von Bienen, Vögeln, Wind gebracht und säen sich selbst aus. Manches wuchert, anderes kümmert vor sich hin. Es gibt Blätter und Blüten, Duft und Früchte. Weiches Moosgrün und kratziges Tannengrün. Geflammtes Herbstrot und Winterweiß, das die inneren Gefüge zum Vorschein bringt. Gras, in dem ich versinken und den Wolken beim Fliegen zuschauen kann.

Nie sieht der Garten so aus, wie ich ihn mir vorstelle. Zu manchen Zeiten ist er überwuchert oder trocken und nichts gedeiht. Trotzdem ist er meist sehr schön und vielfältig und selbst Wildkräuter haben ihren Reiz. Ein Garten ist nie „fertig“, ebenso wenig wie meine Kunst. Und ein Netzwerk fällt nicht vom Himmel, sondern entwickelt sich über viele Jahre und um zahlreiche Ecken. Doch dann sind es auch Beziehungen mit festen Wurzeln und starken Zweigen, die Stürme überdauern.

Fazit

Als Künstlerin muss ich mich der Kunst mit Haut und Haaren verschreiben, ohne Wenn und Aber. Ich muss mich lösen von den Erwartungen anderer und den eigenen Weg gehen, auch auf die Gefahr hin, nicht das zu machen, was anderen gefällt. Um mich weiterzuentwickeln, muss ich bewusst und vertrauensvoll Neues ausprobieren, immer wieder den Mut haben, unbekannte Wege zu gehen, ohne zu wissen, was mich erwartet. Ich muss mich darauf einstellen, dass ich im Nirwana lande, der Trampelpfad irgendwann im Nichts endet. Aber vielleicht entdecke ich auch einen Zauberwald mit magischen Wesen und unbekannten Pflanzen. Mut gibt Handlungsfreiheit.

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