Sheila Hicks in St.Gallen

von | 14. April 2023 | Kunst erleben

Selten hat mich eine Ausstellung emotional so gepackt wie diese. Die raumgreifende Hauptinstallation der Künstlerin Sheila Hicks aus blauen Wollballen ist mir direkt ins Herz gefahren. Wer Kunst fühlen möchte, dem sei diese Ausstellung in St.Gallen wärmstens ans Herz gelegt.

Seit Jahren besitze ich ein Buch. Es ist konzipiert von der großartigen Buchgestalterin Irma Boom, und setzt die ungewöhnliche Kunst von Sheila Hicks wunderbar in Szene. Es gehört zu meinen Lieblingswerken (und wurde seinerseits zum Schönsten Buch der Welt gekürt). Das Buch hat mir damals die Textilkünstlerin nahe gebracht, sodass ich seitdem auch großer Fan von ihr bin.

Und nun eine Ausstellung der fast 90-jährigen Hicks in St. Gallen, gar nicht weit weg von meinem Lebensort Lindau – welch Gelegenheit.

Kunst in der Fachhochschule OST

In der OST gibt es eine Menge Originalkunst zu sehen. Hier die „Suite Erker“ von Antoni Tàpies

Auf den Weg zur Ausstellung ein Halt in der Cafeteria der Ostschweizer Fachhochschule (OST), in der auch Nicht-Studierende willkommen sind. Coole Details. Ich werfe einen Blick in die Aula und was sehe ich: einen Bildzyklus des katalanischen Künstlers Antoni Tàpies. 5 riesige Holzschnitte schmücken eine gesamte Wand. Wie toll: Studieren inmitten von Kunst (und wohlgemerkt: Das ist keine Kunsthochschule!). Ich recherchiere später noch einmal und sehe, dass es auf mehreren Etagen Kunst gibt. Definitiv ein Grund wiederzukommen!

In der Cafeteria der Fachhochschule sind sogar die Deckenlampen stylish.

Die Lokremise

Bevor ich in die Ausstellung eintauchen kann, muss ich die Lokremise finden. Sie war früher ein Unterstellplatz für die Lokomotiven, in denen die Dampfloks auch angeheizt wurden, sichtbar am daneben stehenden alten Wasserturm. Seit ihrer Komplettsanierung 2009/10 ist sie ein Kulturzentrum mit Kunst, Theater, Kino und einem Restaurant.

Lokremise, links der Eingang

Ich habe die Lokremise bisher noch nicht selbst gesehen. Witzigerweise habe ich jedoch auch hier bereits eine emotionale Verbindung über ein Buch: das Typotron-Heft 28, was eigentlich kein Heft, sondern ein 1kg schweres Druckwerk ist, aussieht wie ein Kohlebrikett und ebenfalls zahlreiche Designpreise abgeräumt hat. Die St.Gallener Agentur tgg stellte uns das Werk über die Geschichte der Lokremise vor, als wir sie – ich glaube, es war 2011 – mit dem Buchgestaltung-Kurs der FH Vorarlberg besuchten. Das Buch hatte mich mit seiner stringenten Idee und der damals innovativen Umsetzung als Flatbook so beeindruckt, dass ich auch davon ein Exemplar erworben habe. 

Nun endlich sehe ich den Lokschuppen das erste Mal mit eigenen Augen. Ich mag die Architektur, das Gebäude aus Eisenbeton, die Jugendstilfassade. Und ich mag die Innenräume: Die nach wie vor sichtbaren Säulen und Originalgleise, die hohen Räume und riesigen Fenster, die lockere Unterteilung in große, offene Zonen. Welch gelungene Sanierung des denkmalgeschützten Gebäudes.

So stellt sich der Innenbereich dar. Zentral die Ausstellungsansicht des ersten Werkes, das man nach dem Eintreten sieht. Rechts der Blick auf das Restaurant
Und hier der Blickwinkel um 90 Grad gedreht – rechts die Eingangstür. Im Vordergrund die Arbeit „La Mer“

Die Ausstellung

Und nun – inmitten dieser großzügigen, hellen, doch sehr industriellen Architektur – die Kunst von Sheila Hicks. Ich könnte mir gerade keine bessere Kombination vorstellen. 

Gut zu sehen: die hohen Räume, riesigen Fenster und der raue Industriecharme. Als Kontrastprogramm die textilen Installationen und anderen Werke von Sheila Hicks

Weiche Sinnlichkeit

Hicks ist eine Textilkünstlerin, sie knüpft, webt, wickelt und spinnt. Deshalb: Egal womit sie arbeitet, haben ihr Schaffen und damit auch die fertigen Kunstwerke etwas sehr Haptisches und Weiches. Der Kontrast zwischen ihrer sinnlichen Kunst – etwa die fast 7 Meter hohe Arbeit „Somewhere to Go“ aus aufgetürmten blauen Wollballen, die wie ein Stützpfeiler bis zur Decke ragt – zum harten, kühlen Boden und dem technischen Raumgefühl ist unbeschreiblich. Als ich um die Ecke des Eingangsbereichs – quasi erster Ausstellungsraum – in diesem Raum komme, treten mir die Tränen in die Augen.

„Somewhere to go“ – Wollballen, aufgetürmt zu einer blauen Kaskade, die an die Bewegungen von Wasser erinnert. Als Deckenstütze dient sie in ihrer Weichheit eher nicht. Im Hintergrund rechts als Komplementärkontrast in Orange das Werk „To be titled“, das eine bildnerische Wirkung entfaltet.

Vielgestaltigkeit

Hicks Formensprache ist immens vielfältig, was besonders gut sichtbar wird, weil die gezeigten Arbeiten über einen langen Zeitraum entstanden sind. Sie sieht man Verwandtschaften, Ideenvarianten und gleichzeitig immer wieder neue Metamorphosen.

„Carnaval in Orbit“ – ob man bei dieser Arbeit an ein „Relikt aus der Eisenbahnzeit mit Signalwirkung“ denkt (so steht es auf dem Werkschild), sei dahin gestellt. Aber das intensive Rot strahlt auf jeden Fall eine starke Energie aus.

Farbexplosionen

Neben der Materialität spielt die Farbe eine extrem prominente Rolle. Sie ist wichtiger Träger der Bildaussage, und gibt gleichzeitig starke Impulse, die im Gehirn nach der Verarbeitung in der Sehrinde direkt zum limbischen System weitergeleitet werden: Also sehen und gleichzeitig fühlen. Das wird nicht nur in Hicks Installationen deutlich, die auf den Raum referenzieren und durch ihre schiere Größe einen überwältigenden Seheindruck schaffen. Sondern ebenso in ihren kleinen, teilweise fast experimentell wirkenden Webarbeiten, den Minimes (oder „Miniaturen“). Diese fertigt Hicks seit Jahrzehnten während ihrer Reisen auf tragbaren, oft improvisierten Webrahmen. Dabei reagiert sie auf Vorgefundenes, Stimmungen, Menschen, Landschaften. Sie wirken auf mich wie gewebte Skizzenbücher einer abstrakten Künstlerin.

Diese „Boule“, also mit Fäden umwickelte kugelförmige Körper, kommen immer wieder im Repertoire von Hicks vor. Häufig werden sie – wie auch hier, in der Arbeit „Ancestral Beauty“ – in Gruppen zusammengestellt. Spannend ist die Nonchalance, mit der sie wirken, als seien sie eben mal umwickelt, im Kontrast zu ihrer edlen Wirkung, die an eine besondere Sammlung von Edelsteinen erinnert. Ich möchte sie am liebsten streicheln.

Innehalten

Viele der Werke haben auch etwas Kontemplatives, laden ein zum Schauen, Drumherumgehen, nahe Herantreten und wieder Weggehen. Sie sind intelligent, aber nicht intellektuell. Sie haben viele Referenzen, etwa zur präkolumbianischen Weberei oder zu indigenen Traditionen. Diese Informationen sind überall auf den Werkschildern zu finden und hochinteressant. Doch auch ohne diese Erklärungen ist Hicks Kunst einfach zugänglich. Leider darf man sie nicht anfassen – nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.

Auf dem Boden liegen Fischernetze, die dazu einladen, sich auf die reduzierte Formensprache einzulassen und zur Ruhe zur kommen. Die Arbeit an der Wand (Hommage extravagante à Michael Thonet Paris (Will you dance with me?)) erweckt aus der Ferne betrachtet fast die Assoziation eines Graffitis.

Sheila Hicks ist eine Erfinderin. Sie übersetzt ihre Erlebnisse in farbintensive, sinnliche Materialität, die zum Innhalten und Fühlen einlädt. In Ihrem Interview mit dem Kurator Gianni Jetzer sagte sie Folgendes: „You are invited to come and look. To look, walk, feel. And you don’t need words to tell you what’s happening.“ Also einfach nur Schauen, erlaufen und fühlen. Mehr Worte braucht es auch hier nicht.

Sheila Hicks: A Little Bit of a Lot of Things
LOK by Kunstmuseum St.Gallen
4.2.–14.5.2023
Details zur Ausstellung

Tipp: Im Hauptraum steht ein langer Tisch mit vielen Publikationen zur Künstlerin. So kann man sich hinsetzen, darin blättern und dort Gefundenes immer wieder mit der aktuellen Ausstellung abgleichen.

So macht man eine Künstlerin und Buchgestalterin glücklich: eine tolle Ausstellung mit einem Tisch, an dem sie auch noch gut gestaltete Bücher anschauen kann…

Links:


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2 Kommentare

  1. Jetzt möchte ich dich streicheln, wie die Werke von Hicks, liebe Dagmar! Danke für diese Worte die du gefunden hast die ich selbst nur erfühlt habe in der Ausstellung. Hicks Werke erfüllen mich ungewöhnlich stark, dringen tief in mein wortloses reines Empfinden ein. Es waren Stunden voll Glück in der Lokremise. Oft mochte ich nicht einmal die erklärenden Titel, Schildchen lesen, zu überwältigt war in von dieser stillen Schönheit. Erlegen den Reiz nur zu schauen, zum Staunen wie ein kleines Kind.
    Ich hatte vorher Bilder im Netz oder im Buch gesehen. Aber wie anderes ist es davor zu stehen und der Sprache, der Stimme der Kunst zu lauschen!
    Und jetzt, Tage danach, schenkt mir dein wundervoller Text neues Glück und Wohlempfinden ein zweites Mal.
    Du bist eine wunderbare WORT – KÜNSTLERIN

    Antworten
    • Liebe Christa, auch du bist der Worte mächtig – Worte, die mich berühren. Es war ein wunderbarer Tag: Mit dir an der Seite in die Kunst von Sheila Hicks einzutauchen, anregende Gespräche zu führen, sich miteinander über und an der Kunst zu freuen. Diese Freude hast du in deinem Foto – was ich freundlicherweise verwenden durfte – ganz wunderbar eingefangen. Ich danke dir.

      Antworten

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