Das Sehen im Kleinen: Die Kunst des kleinen Formats

von | 18. Februar 2021 | Kunstwissen

Ein Gemälde – das muss so richtig groß sein, sonst wirkt es nicht! Das denken nicht nur viele Kunstschaffende, sondern auch Menschen, die sich für Kunst interessieren. Klar beeindrucken große Formate in den riesigen Räumen von Museen und Galerien, während kleine Werke auf den ersten Blick untergehen. Aber auch Bilder, die sich ohne Lesebrille kaum erfassen lassen, können Kunst sein. Hier ein Plädoyer für das „kleine Format“.

  1. Kleines Format, missachtet
  2. Kleine Werke = keine Kunst?
  3. Große Künstler, auch in kleinen Größen
  4. Ausstellungen kleiner Bilder
  5. Wann ist ein Bild klein?
  6. Kleine Kunst, große Vorteile

Kleines Format, missachtet

Neulich, bei einer Weiterbildung: Die Teilnehmenden sollen jeweils zwei typische Werke ihres Schaffens mitbringen. Für mich nicht so einfach, da ich in sehr unterschiedlichen Techniken und Stilen arbeite. Ich entscheide mich für eines meiner Materialbilder und für ein – sehr kleines – Öl-Wachs-Bild. Ersteres bringe ich mit, weil ich diese Technik sehr mag und häufig einsetze. Das zweite wähle ich, weil es exemplarisch für mein Arbeiten in vielen Schichten steht – und dafür, dass ich oft eher kleinere bis mittlere Formate kreiere. Beim Rundgang bewertet der Kursleiter wohlwollend das größere Bild. Das kleine schaut er nur flüchtig an und kanzelt es mit den Worten ab: „So etwas Kleines lässt sich allenfalls als Weihnachtskarte an Kunden verschenken“.

Kleine Werke = keine Kunst?

Da stehe ich etwas perplex. Sind kleine Formate keine richtige Kunst? Bin ich nur dann Künstlerin, wenn ich meine größeren Leinwände bemale? Ist klein gleichbedeutend mit unwichtig? Das wäre so, als behaupte man, Lyrik und Kurzprosa seien keine Literatur oder als könne ein Kammerensemble keine Musik spielen. Wer das sagt, hat wohl noch nie Gedichte von Rainer Maria Rilke gelesen oder einem Streichtrio von Beethoven gelauscht. Also: aus meiner Sicht Quatsch.

Ich arbeite gern mit kleinen Größen. Hier ein Blick in mein Atelier – gerade fertig mit dem Einrahmen neuer Bilder. Zum Größenvergleich: Der Katalog „Paper“ hat das Format Din A4.

Große Künstler, auch in kleinen Größen

Ein kurzer Spaziergang durch die Kunstgeschichte zeigt: Nicht nur was groß ist, glänzt. Viele berühmte Künstler haben auch kleine Bilder geschaffen, hier ein paar Beispiele:

  • Rembrandt (van Rijn) hat es im Lauf seines Lebens auf fast 100 Selbstportraits gebracht. Eines, das er 1630 gemalt hat, misst gerade mal 15 cm × 12,5 cm – kein Hindernis dafür, dass es heute zur Sammlung des Nationalmuseums in Stockholm gehört (und unbezahlbar ist). 
  • Jean Baptiste Weyler mag heute nur Kunstkennern ein Begriff sein, war aber zu Lebzeiten ein berühmter Miniaturmaler. Er portraitierte die VIP-Persönlichkeiten seiner Zeit – mit Formaten weit unter 10 cm Seitenlänge. Nicht gerade das, was man sich unter Ölschinken vorstellt … 
  • Jan Vermeer: Seine bekanntesten Werke sind wohl Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge im Mauritshuis in Den Haag und Die Dienstmagd mit Milchkrug im Rijksmuseum in Amsterdam. Ihre Maße: 45 cm × 40 cm und 45,5 × 41 cm. Das beweist, dass auch Künstler mit kleinem Oeuvre und relativ kleinen Bildern einen großen Platz in der Kunstwelt einnehmen können.
  • Paul Klee, Lehrer im Bauhaus und Mitglied der expressionistischen Gruppe der Blaue Reiter, malte viele Bilder, die nicht größer als eine Din-A4-Seite sind. Das wiederum hat Georg Baselitz dazu bewogen, in seinem Aufsatz über „Formate in der Malerei“ (1984) Klee aus Beispiel für kleinformatige Kunst anzuführen.
  • Der karibische Künstler Frank Walter wurde erst nach seinem Tod 2009 von der Kunstwelt entdeckt (und mittlerweile mit zahlreichen Retrospektiven weltweit geehrt). Ob das wohl daran liegt, dass er seine Kunst überwiegend auf etwa bierdeckelgroße Holztafeln gebannt hat?
  • Emil Nolde galt während der letzten Jahre des Nationalsozialismus als entarteter Künstler und hatte Malverbot. Um sich nicht durch den Geruch nach Ölfarbe zu verraten, stieg er auf Aquarell, Gouache und Tusche um. Es entstanden die rund 1.300 „ungemalten Bilder“ – atemberaubende Farbkreationen auf Japanpapier, die kaum größer sind als 17 × 24 cm, viele passen sogar in eine Handfläche.
  • Der Maler, Druckgrafiker und Illustrator Max Ernst, Meister des fantasievollen Surrealismus und Erfinder zahlreicher neuer künstlerischer Techniken, hat in seinen vielfältigen Farb- und Formexperimenten auch immer wieder kleine Werke geschaffen.
  • Das vielleicht kleinste Gemälde der Welt hat der chinesische Künstler Jin Yin Hua erschaffen. Sein Werk „The Portraits of 42 American Presidents“ von 2006 lässt sich nur mit Hilfe einer Lupe betrachten. Die Köpfe sind auf einem menschlichen Haar gemalt – mit einem Pinsel, der nur aus einem Kaninchenhaar bestand.
  • Nicht zu vergessen: die Illustrationen in den frühen Jahren des Buchdrucks, etwa in Gebets- und Andachtsbüchern. Berühmt und sehr gut erhalten ist das Stundenbuch des Herzogs von Berry (Très Riches Heures du Duc de Berry) der Brüder von Limburg, dessen Seiten ungefähr die Größe einer Din-A4-Seite entsprechen und die von gut 130 ganzseitigen Miniaturen verziert sind.

Ausstellungen kleiner Bilder

Museumswände verlangen eher nach großen Bildern. Trotzdem gibt es Häuser, die sich auf kleinformatige Kunst spezialisiert haben. So beherbergt das Bomann-Museum in Celle die Sammlung Tansey, eine Kollektion von Miniaturportraits. Dort finden sich neben dem oben genannten Weyler zahlreiche Künstler, die in den unterschiedlichsten Epochen ihr Auftraggeber mit winzigen Portraits auf Pergament oder Elfenbein begeistert haben.

Und nicht zu vergessen die zahlreichen Ausstellungen, die explizit Kunst in kleinen Größen zum Thema haben. Exemplarisch seien das jährliche stattfindende „Kleine Format“ des Kunstvereins Aichach und die Ende 2019 stattgefundene Ausstellung „Kleine Formate“ des Vereins KunstVorarlberg genannt – einfach weil sie bei mir in der Nähe sind.

Wann ist ein Bild klein?

Vielleicht wundern Sie sich, dass ich nicht bereits am Anfang definiert habe, was kleinformatige Kunst ist. Das liegt daran, dass das nicht so einfach ist. Sogar wissenschaftliche Arbeiten kommen zu dem Ergebnis: Es existiert keine allgemein gültige Festlegung. So finden sich Definitionen „Kleinformat ist alles bis 70 cm × 100 cm“ – was hieße, dass ich so gut wie nur kleinformatige Bilder male. Andere Autoren wiederum nehmen 50 cm Seitenlänge als ungefähre Obergrenze – für mich eher ein mittleres Format. Wieder andere empfinden alle Bilder unter 30 cm bereits als Miniaturen, also besonders klein.

Das Gute daran ist: Für meine Werke kann ich selbst festlegen, was ich als klein, mittel und groß definiere. Und das tue ich ganz pragmatisch:

  • Klein ist das, wofür ich nah rangehen muss, um das Bild zu erfassen, also alles bis etwa 20–30 cm Seitenlänge.
  • Mittlere Formate wirken bereits, wenn ich ein paar Schritte entfernt stehe, gewinnen aber durchaus bei näherer Betrachtung. Da setze ich die Grenze bei etwa 70 cm Seitenlänge.
  • Und alles darüber sind für mich große Formate – die beim Aufhängen nicht nur eine Wasserwaage, sondern ein zweites Paar Hände benötigen.

Kleine Kunst hat viele Vorteile beim Aufhängen. Dagmar Reiche vor zwei kleinen Landschaften in ihrer Galerie.
Kleine Bilder lassen sich leicht auf- und umhängen. Spannend kann eine Petersburger Hängung sein, in der viele Größen kombiniert werden.

Kleine Kunst, große Vorteile

Hier nun 7 Punkte zu den praktischen Vorteilen und Besonderheiten kleinformatiger Kunst – aus Sicht der Interessierten, aber auch aus meiner Sicht als Künstlerin:

  • Platz: Gerade in Wohnräumen sind weiße Wände häufig Mangelware – für ein kleinformatiges Bild finden Sie immer noch einen Platz. Eine Hängung vieler Bilder in gleichem Format (und Rahmen), eventuell sogar in einer Reihe, bringt Ruhe; Spannung dagegen eine sogenannte Petersburger Hängung, bei der die Bilder eng nebeneinander gehängt und auch verschiedene Größen und Rahmen wild kombiniert werden können.
  • Verträglich: Kleine Bilder sind weit weniger dominant als große. Sie müssen sich in Ihrem Raum also nicht auf einen Stil festlegen und können Werke von unterschiedlichen Künstler*innen und mit verschiedenen Techniken kombinieren, ohne dass diese zueinander (oder zu ihrer Umgebung) in Konkurrenz treten. 
  • Abstand: Große Bilder sind ein Statement, klar. Aber sie wirken erst ab einer gewissen Entfernung, benötigen also viel Abstand. In engen oder kleinen Räumen haben dagegen kleine Bilder ihren Auftritt, der nur auf den ersten Blick bescheiden ist.
  • Handlich: Kleine Werke sind in der Regel handlicher. Sie wiegen weniger, lassen sich leichter lagern, verpacken und transportieren, einfacher auf- und umhängen.
  • Preis: Kleinformatige Bilder sind vergleichsweise günstig. Der/die Maler*in hat weniger Materialkosten und eine kleine Leinwand ist oft schneller fertig als eine große. Allerdings kann das täuschen: Ich zum Beispiel wende für meine kleinen Formate häufig sogar mehr Zeit auf als für meine größeren Bilder, weil in ihnen jedes Detail wichtig ist und stimmig am richtigen Platz sitzen muss. Manche Kreative bevorzugen auch deshalb größere Formate: Je nach Malweise ist das Verhältnis von Zeitaufwand zum Preis dabei günstiger (für den Kunstschaffenden). So oder so: Kleinere Bilder kosten meist weniger. Und der geringere Preis ist für manche Menschen ein Anreiz, das erste Mal überhaupt Originalkunst zu kaufen – oder auch zu verschenken.
  • Nähe: Kleinere Bilder haben etwas Intimes: Sie müssen nah herantreten, um sie richtig zu sehen und all ihre Details und Facetten zu erfassen. Das kann wie in einer Beziehung anstrengend sein, weil Sie sich darauf einlassen müssen. Aber auch sehr erfüllend.
  • Prozess & Essenz: Kleine Formate haben oft etwas Spontanes, Experimentelles, Spielerisches. Beim Kreieren entstehen Impulse, die ich direkt aufgreifen und wieder einfließen lassen kann. Deshalb eignen sich kleine Formate auch gut für serielles Arbeiten. Beim Tun konzentriere ich mich dabei oft eher auf den Prozess, ohne an das Ergebnis zu denken. Nicht umsonst füllen auch viele kleine Skizzen meine Notizbücher und Zettelkästen. Und wie in der Poesie sind sie eine Form des Verdichtens.

Fazit

Das kleine Format hat die gleiche Daseinsberechtigung in der Kunst wie großformatige Werke. Das zeigt auch ein Blick in die Kunstgeschichte. Kleine Bilder haben viele Vorteile, oft einen anderen Schaffensprozess und sind weniger ein Statement als intime Essenz. Je größer desto besser, je kleiner desto schlechter? Nein, nur anders!


Quellen (Auswahl)

Große Künstler, auch in kleinen Größen
1 Deutschlandfunk Kultur vom 15.5.2020: Rudolf Schmitz. Maler Frank Walter – Ein Kampf um Identitätsbildung (abgerufen am 10.02.2021, https://www.deutschlandfunkkultur.de/maler-frank-walter-ein-kampf-um-identitaetsbildung.1013.de.html?dram:article_id=476793)
2 Welt vom 24.4.2007: Julika Pohle. Emil Noldes „Ungemalte Bilder“ (abgerufen am 10.02.2021, https://www.welt.de/welt_print/article830211/Emil-Noldes-Ungemalte-Bilder.html)
3 Hrsg. Humanistischer Pressedienst vom 8.10.2009. „Ungemalte Bilder“ von Emil Nolde (Abgerufen am 10.2.2021, https://hpd.de/node/7925
https://viola.bz/painted-on-a-single-human-hair)
Wann ist ein Bild klein
5 Michael Niehaus: Kleine Formate. (Abgerufen am 10.2.2021, https://kw.uni-paderborn.de/fileadmin-kw/fakultaet/Institute/kunst/Forschung/Kulturen_des_Kleinen/Paper_Niehaus_Kleine_Form.pdf)

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