Die Kunst, Stille zu hören

von | 3. Juni 2022 | Kunstwissen

Stille scheint heute ein Luxusgut zu sein. Dabei ist sie wichtig für unser körperliches und seelisches Wohlbefinden. Als Künstlerin brauche ich sie für mein kreatives Arbeiten und viele meiner Bilder strahlen Ruhe aus. Grund genug, über sie genauer nachzudenken.

  1. Stille ist mehr als „kein Lärm“
  2. Was ist Stille?
  3. Stille in der Kunst
  4. Leise und laute Töne
  5. Warum Stille erfüllend sein kann
  6. Stille als Lebenselixier
  7. Lärm macht krank
  8. Stille für Aufmerksamkeit und Kreativität

Ruhig, leise, sacht, aber auch lautlos, geräuschlos, bewegungslos, unhörbar: Diese Begriffe kommen mir als erstes in den Sinn, wenn ich an Stille denke. Einige davon vermitteln den Eindruck, dass etwas fehlt – ohne Laute, ohne Bewegung, nichts zu hören. Bei der Funkstille fehlt die Kommunikation, ein stiller Mensch sagt nicht viel, ein stiller Körper ist vielleicht sogar ohne Leben, gebettet zur letzten Ruhe. 

Stille ist mehr als „kein Lärm“

Je nachdem, wen man fragt, bedeutet Stille Unterschiedliches, weckt verschiedene Gefühle. Manche Menschen empfinden sie als anstrengend, schwer zu ertragen und versuchen sie zu vermeiden. Redewendungen wie „peinliches Schweigen“, „unheilschwangere Stille“ und „Ruhe vor dem Sturm“ zeugen von der Assoziation mit unangenehmen Situationen. Für andere Menschen ist Stille etwas Positives – und so wichtig, dass sie sich immer wieder Auszeiten vom Trubel suchen und nehmen. Sie verbinden damit Energietanken, Kontemplation, Ganz-bei-sich-sein. Diese Eigenschaften – Stille eher zu meiden oder zu mögen – werden häufig den extrovertierten bzw. introvertierten Menschen zugeschrieben.

Stille hat etwas Sakrales, die Ruhe von Gotteshäusern hilft bei der inneren Einkehr. In einem der bekanntesten Weihnachtslieder weltweit wird sie in einem Atemzug mit der Nacht und mit „heilig“ genannt – vielleicht werden Wunder nur dann wahrgenommen, wenn sie von Ruhe umgeben sind? Interessant auch die Stille nach etwas Großem, diese kurze Pause der Ergriffenheit, bevor der Beifall nach einer Aufführung oder Lesung aufbrandet. Alles andere als dieses andächtige Schweigen scheint zu klein für die Wertschätzung des gerade Gehörten oder Gesehenem. Auch das ist die Kraft von Kunst: Uns still werden zu lassen.

„Die Stille der Welt erhorchen“ – das ist der Tiel dieses Bildes. Je mehr Zeit man sich nimmt, sich darauf einzulassen, desto mehr lässt sich darin entdecken.

Was ist Stille?

Für Akustiker ist Stille Schall, der nicht mehr hörbar ist. Seine Energie ist zu gering, um vom menschlichen Ohr wahrgenommen zu werden, auch wenn er mit empfindlicheren Geräten durchaus noch messbar ist. Der Punkt, an dem die Stille in Hörbares übergeht, heißt Ruhehörschwelle. Dies kann für verschiedene Tonhöhen, also Frequenzen unterschiedlich sein, und verschiebt sich meist mit zunehmendem Alter (oder nach einem Lärmschaden): Das Ohr braucht dann eine größere Lautstärke, um etwas zu hören.

In der Nanotechnologie ist Stille zwingend notwendig für die Experimente der Grundlagenforschung. Sie wird deshalb viel umfassender definiert – nicht nur als Abwesenheit von akustischen Reizen, sondern auch von anderen Störenfrieden wie Vibrationen, elektromagnetischen Feldern oder Temperaturschwankungen. Die dafür erzeugte schallschluckende, abgeschottete Umgebung tief unter der Erde verträgt keine Menschen – und ist umgekehrt nicht besonders verträglich für den Menschen.

Spannend ist auch, dass das Bedürfnis nach Stille offenbar ein eher neuzeitliches Phänomen ist. Die Städte mit ihren Handwerkern in engen Gassen waren früher nicht viel leiser als die heutigen mit Verkehrslärm. Das jedenfalls meinen Umwelthistoriker. Und Lärmschutzstöpsel fürs Ohr wurden erst Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden.

In der Stille der Natur die Energiespeicher füllen

Stille in der Kunst

In der Kunst spielt die Stille seit jeher eine wichtige Rolle. Aus meiner Sicht ist sie unabdingbar für eine zentrale Aufgabe: Den Betrachtenden zur Kontemplation einzuladen, ihn zum Zwiegespräch mit sich und der Kunst anzuregen, ihm vielleicht sogar eine neue Ebene des Denken und Fühlens zu erschließen. Kunst schafft Raum für Gedanken, regt an, gibt spirituelle Energie und beruhigt – und das gelingt ihr besonders gut, wenn sie sich dafür die Kraft der Stille zum Freund und Unterstützer macht. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, im Folgenden einige Aspekte:

Bildende Kunst

Die Geschichte der Bildenden Kunst ist voll von Werken, die zur inneren Einkehr einladen: Bemalungen von Kirchen und Kapellen (man denke an die Decke der Sixtinische Kapelle), Gemälde, die durch ihre Präsentation einladen, sich hinzusetzen, ruhig zu werden und die Kraft der Farben zu tanken. So ging es mir in London in der Tate Modern, im Raum mit den Gemälden von Mark Rothko: Ich habe mich auf einer der Bänke im Zentrum gesetzt und auf die intensive, flirrende Farbwelt eingelassen. Und dabei gespürt, wie deren ruhige Energie sich in mein Inneres übertrug.

Und nicht zu vergessen das Genre, dass den Begriff bereits im Namen trägt: die Stillleben – Abbilder von leblosen Dingen, die auf besondere Art arrangiert sind. Wobei: „Abbilder“ greift zu kurz. Die Gegenstände in Stillleben sind Träger für Metaphern, Allegorien, Gefühle; sie erzählen Geschichten und Geschichtliches.

„Sanft“ – ein abstraktes Bild kann wirken wie ein Stillleben, das ruhige Geschichten erzählt.

Musik

Ich muss zugeben: Die Bildende Kunst ist mir näher als die Musik. Doch in Gesprächen mit Freunden, deren Schwerpunkt eher dort liegt, stelle ich immer wieder fest, wie viele Gemeinsamkeiten es gibt. Deshalb auch hier ein paar persönliche Schlaglichter.

  • Während meiner Weiterbildung „Typographie intensiv“ vor ein paar Jahren bin ich mit Neuer Musik in Berührung gekommen. Die Aufgabe war, ein Plakat und CD-Cover für den amerikanischen Avantgarde-Komponisten John Cage zu gestalten. Da ich Designaufgaben immer konzeptionell angehe, habe ich mich mit ihm und seiner Kunst auseinandergesetzt. Sein Klavierstück 4′33″ ist aus drei Sätzen aufgebaut, die nur aus Pausen bestehen. Es wird als ein Schlüsselwerk dieser Musikrichtung angesehen, und spiegelt seine Auseinandersetzung mit dem Gedanken einer „Musik der Stille“. Auch wenn ich die zeitgenössische Musik nicht unbedingt ästhetisch mag oder verstehe (was sicher viele Menschen auch von abstrakter Kunst sagen), finde ich den Gedanken, stille Musik zu kreieren, sehr reizvoll und er lädt mich zur Auseinandersetzung ein.
  • Als Kind der 60er Jahre bin ich mit der Hymne „The Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel aufgewachsen. Ich erinnere mich noch gut an die kläglichen Versuche in meiner Jugend, der Gitarre passende Akkorde zu entlocken. Menschen sprechen, ohne etwas zu sagen, Menschen hören, ohne zuzuhören (People talking without speaking, People hearing without listening) – das scheint kein neues Phänomen zu sein, auch wenn es sich manchmal so anfühlt.
  • Auch in der Volksmusik kommt Stille oft vor, meist in Assoziation zum Abend oder zur Nacht. Man denke an „Der Mond ist aufgegangen“, „Guter Mond, du gehst so stille“ oder den wunderschönen dreistimmigen Kanon „Abendstille überall“.

Literatur und Film

In der Literatur ist die Stille ebenfalls ein wichtiges Element – ob bei Nitsches Zarathustra, bei Eichendorffs Lorelei in „Der stille Grund“ oder in den Gedichten von Goethe, etwa den berühmten ruhigen Wipfeln in „Ein Gleiches“. In der Epoche der Klassik spielte sie eine zentrale Rolle bei der Suche nach Schönheit, Harmonie und Ordnung. Filme wie „Gottes vergessene Kinder“ und „Jenseits der Stille“ versuchen zu zeigen, wie sich die stille Welt von gehörlosen Menschen anfühlt.

Pantomime

An dieser Stelle möchte ich noch den Stummfilm und die Pantomime erwähnen. Ohne Worte, nur mit Hilfe von Gesten und Mimik Geschichten zu erzählen, zu kommunizieren, Gefühle zu vermitteln: Das beeindruckt mich extrem. Der Jahrhundertkünstler Marcel Marceau mit seinem gestreiften Hemd, der weißen Hose und seinem Hut mit Blume ist vermutlich vielen Menschen ein Begriff. Er entwickelte diese Form der Sprache aus einer Not in Kriegszeiten. Es war eine Möglichkeit, mit Flüchtlingen zu kommunizieren, ohne sie zu verraten. Später machte er daraus seine ganz eigene, berührende Kunstform der „Stillen Sprache“.

Auch in Landschaften, die auf dem ersten Blick ruhig wirken, kann viel Energie stecken.

Leise und laute Töne

Egal, wo wir uns aufhalten: Die absolute Stille gibt es nicht (oder nur künstlich erzeugt) – ihr länger ausgesetzt zu sein, macht uns vermutlich verrückt. Nicht umsonst ist das komplette Ausschalten externer Reize eine Foltermethode. Die Stille des Alltags ist eine andere. Eine Möglichkeit, sich auf etwas einzulassen, ganz im Jetzt einzutauchen und mit Muße Dinge zu entdecken.

Häufig fehlt sie, unsere Welt ist laut, Millionen von Unternehmen, Dingen, Menschen, Nachrichten, Ereignissen buhlen um unsere Zuwendung. Das Hintergrundrauschen drängt sich ständig in den Vordergrund. Was macht das mit uns, mit dem Leben? Leise Töne werden nicht mehr gehört, die Aufmerksamkeit stumpft ab, wir werden taub. Das ist wie neben den Lautsprechern im Club zu stehen und zu versuchen, ein normales Gespräch zu führen. Hörbar ist dann nur der, der schreit. Wir verlernen, genau hinzuhören, empfinden es als anstrengend, uns auf eine Sache zu fokussieren. Stille zu finden und sie dann auch noch zu mögen, ist schon fast eine Kunst.

Warum Stille erfüllend sein kann

Für mich bedeutet Stille keinen Mangel, sondern sie ist bereichernd. Erst die leisen Zwischentöne machen das Leben vielfältig. Die meisten kennen das wunderbare Gefühl, ein tolles Essen vor sich zu haben, dessen raffinierte Gewürzzusammenstellung jeden Bissen zu einem neuen Geschmackserlebnis macht. Solch ein Gericht gelingt nur, wenn für jede Nuance Platz ist, und nicht eines der Ingredienzen oder der Chili so dominant sind, dass sich die anderen Zutaten nicht mehr schmecken lassen.

Stille ist die Komposition leiser Töne, die nur dann alle klingen können, wenn es nicht einen Schreihals dazwischen gibt. Jeder, der versucht Schlaf zu finden, während eine Fliege immer wieder brummend gegen die Fensterscheibe fliegt oder der tropfende Wasserhahn im Nachbarraum rhythmisch die Nachtruhe stört, kennt das Phänomen.

„Unterwegs in stillen Wassern“ – zwei Bilder, die zum Innehalten und genauen Hinsehen einladen.

Stille als Lebenselixier

Manche Menschen tanken im Trubel Energie. Andere sind zwar gern in Gesellschaft, brauchen dann aber das Alleinsein, um ihre Batterien wieder zu füllen. Wieder andere sind am liebsten ganz für sich, man denke an Eremiten, Yogi, Menschen im Kloster. Die Suche nach der Stille scheint heute besonders dringend zu sein, davon zeugen Angebote wie Schweige-Retreats, Meditationswochen, Handy-Detox. In der Abgeschiedenheit eines Schlupfwinkels (neudeutsch „Hideout“) startet die Suche nach einer Auszeit.

Stille – als Abwesenheit von Lärm – ist lebenswichtig. Sie ist Kraftquelle für unser Gehirn, unsere Seele, sie vermindert Stress, steigert unsere Leistungsfähigkeit und unser Wohlbefinden. Das ist nicht esoterisch, sondern wissenschaftlich erforscht und bewiesen. Umgekehrt kann Lärm körperlich und psychisch krank machen, auch das wurde in vielen Studien gezeigt.

Lärm macht krank

Manchmal wünsche ich mir Ohrenlider. Leider können wir unseren Hörsinn nicht bewusst beeinflussen oder abschalten. Das Verrückte ist: Wir können uns nicht an Lärm gewöhnen. Selbst wenn wir ihn nicht bewusst wahrnehmen, stört er unser Wohlbefinden. Die Wissenschaft weiß darum, deshalb gibt es beispielsweise in Deutschland auch eine Lärmschutzverordnung.

Lärm aktiviert Gehirnregionen, die für die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol sorgen. Der Körper wird in Alarmbereitschaft gesetzt, der Blutdruck steigt. Für lautes Löwengebrüll mag das eine lebensrettende Reaktion sein – doch ein Dauerstressmodus macht krank. Schlaf, Stoffwechsel- und Hormonhaushalt werden beeinträchtigt, der Blutdruck bleibt ständig erhöht, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt.

Gleißendes Licht kann so überwältigen, dass alle anderen Sinne ausgeblendet werden. Auch eine Form der Stille.

Stille für Aufmerksamkeit und Kreativität

Dauerfeuer von lauten Geräuschen erfordert Hochleistungen. Schließlich muss unser Gehirn die ganze Zeit die einprasselnden Informationen verarbeiten, bewerten und sortieren. Kein Wunder, dass bei dieser Arbeit irgendwann die Konzentration leidet. Umgekehrt wirken selbst kurze Ruhepausen von wenigen Minuten wie Vitaminbomben: Das Gehirn erholt sich und kann danach wieder besser denken und kreativ sein. Mitte der 80er Jahre wurden dazu Studien gemacht und von Kaplan in der „Theorie der Aufmerksamkeitswiederherstellung“ (Attention Restoration Theory, ART) zusammengefasst. Diese besagt, dass bereits wenige Minuten in ruhiger Natur (oder sogar beim Betrachten entsprechender Bilder) ausreichen, die Konzentration wieder herzustellen.

Ich kenne das aus eigener Erfahrung – nicht umsonst liebe ich es so, am Ufer das Bodensees zu sitzen, das Wassergemurmel zu genießen und die Gedanken schweifen zu lassen. Wenn ich dann erfrischt in mein Atelier zurückgehe, gelingt es mir häufig mühelos, ein Bild fertigzustellen, an dem ich mir vorher schon länger die Zähne ausgebissen habe.

Auch dazu gibt es Erkenntnisse aus der Hirnforschung: Wir besitzen Hirnregionen, die dann zur Höchstform auflaufen, wenn gerade nicht viel von außen auf uns einströmt. Dieses „Ruhezustandsnetzwerk“ (Default Mode Network, DMN) ist Meister darin, auf Gedankenreisen zu gehen und dabei kreative Ideen und Lösungen zu entwickeln. Vielleicht täten Unternehmen gut daran, zum Ankurbeln der Kreativität Ruheräume für Tagträumer einzurichten.

kunstreiche Ateliergefluester raus aus der komfortzone blaue stille
Die Natur beruhigt.

Fazit

Stille in der Kunst bedeutet für mich, mehrere Bedeutungsebenen zu vermitteln – nicht als laute, vordergründige Botschaft, sondern durch Bild- und Gedankenräume, die sich erst erschließen, wenn sich der Betrachtende konzentriert und länger auf das Werk einlässt. Nicht die laute Sensation, sondern die sanfte Erfahrung. Zur Ruhe kommen, Kunst schaffen, Geheimnisse entdecken, Kraft tanken, kreativ sein – all das gelingt mir nur in und mit der Stille. Ich mag Stille – dann kann ich Leises hören.


Weitere Links:

Tschüss Blockade, hallo Kreativität

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2 Kommentare

  1. Vielen Dank für die tiefgehenden Informationen und Inspiration.
    Mit zunehmendem Alter bemerke ich, dass ich mehr Ruheinseln und Stille in meinem Leben brauche.
    Pausen und Stille schaffen die Akzente im Kunstwerk Leben, das wir ansonsten nicht als solches wahrnehmen können.
    Eine der besten Fragen im Selbst-Coaching: „Warum vermeide ich Ruhe?“ Du gibst Anregungen Stille zu wagen.

    Antworten
    • Liebe Carmen, ja das geht mir genauso. Ich bin aber nicht sicher, ob das wirklich mit dem persönlichen Älterwerden zu tun hat oder mit dem Lauterwerden unserer Welt. Vermutlich beides. Die Frage „Warum vermeide ich Ruhe“ kann ich nicht beantworten – ich vermeide sie nicht, ich suche sie :-) Aber ich kann mir vorstellen, dass es eine Frage ist, die häufig weiterführt. Liebe Grüße, Dagmar

      Antworten

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