Kunst benötigt Können. Und eine Seele

von | 21. Januar 2022 | Ateliergeflüster

Mir fällt derzeit auf, wie stark die sozialen Medien und das Internet in den letzten Jahren mit Weiterbildungsangeboten geflutet werden. Überall ploppt Werbung für Seminare auf, sehe ich Challenges oder Postings von Kursergebnissen. Hat man die nötige Zeit und ggf. auch die entsprechenden Geldmittel, könnte man den ganzen Tag nichts anderes tun, als sich fortzubilden.

  1. Vorteile: Antworten und Angebote finden, rund um die Uhr
  2. Lifelong Learning
  3. Nachteile: Fokus und Zeit verlieren
  4. Können kann berühren, aber auch kalt lassen
  5. Kunst braucht Seele

Die Verfügbareit von Wissen gilt auch und besonders in der Kunst und anderen kreativen Bereichen. Zu jeder Technik, jeder Ausrichtung, jeder Art des Materials kann ich kostenlose Videos, kurze Ausbildungssequenzen, Vorträge, Workshops, längere Kurse finden und buchen.

  • Ich wollte schon immer wissen, wie ich ein klassisches Porträt in Manier der alten Meister zeichne, wie eine realistische Berglandschaft in Acryl, Sonnenblumen à la van Gogh in Öl oder ein abstraktes Bild in Mischtechnik male?
  • Worin liegt nochmal der Unterschied zwischen Gouache und Aquarell?
  • Wie kann ich Pigmente selbst anrühren und wo diese kaufen?
  • Wie schaffe ich es, Fotos auf Holz zu transferieren oder einen Linolschnitt ohne eine Steinpresse zu machen?
  • Was ist der Goldene Schnitt und wie kann ich ihn in der Komposition meines Bildes oder Fotos berücksichtigen?
  • Wie baue ich ein Pop-up-Buch, binde eine Broschüre, fertige ein Leporello? 

Die Liste der Fragen, auf die ich online nach Antworten suchen kann, ließe sich endlos fortsetzen. 

Vorteile: Antworten und Angebote finden

Zu fast allem finde ich eine Lösung im Netz, ein Video auf YouTube oder einen Selbstlernkurs für ein Wochenende. Verstärkt durch die Pandemie sind auf der ganzen Welt nicht nur neue Online-Anbieter aus dem Boden geschossen, sondern auch private Kunstakademien haben ihr traditionelles Angebot vor Ort um Online-Kurse erweitert. Befeuert wird die Entwicklung durch die sehr günstige und intuitiv bedienbare Technik – notfalls finde ich dafür dann Kurse, wie ich welche Programme nutzen und Videos drehen kann, und welche Ausrüstung wofür am besten geeignet ist.

Der globale Markt mit Englisch als Weltsprache und automatische Übersetzungsprogramme tun ein Weiteres für die Zugänglichkeit an jedem Ort, rund um die Uhr. Nicht zu vergessen die sozialen Medien, die nicht nur die Möglichkeiten bieten, einfach Bilderserien oder Videos hochzuladen, sondern die zeigen, dass all die anderen das auch machen, es also ganz einfach sein muss.

Zu künstlerischen Techniken und Materialien finden sich unzählige Kurse

Neue Formen der Kreativvermittlung, etwa Artnights, haben weitere Nischen besetzt. Dazu kommt die Präsenz der Kunstschaffenden, die auf vielen Kanälen nicht nur ihre Werke zeigen, sondern die Zuschauer an ihrem kreativen Prozess teilhaben lassen oder Kurse anbieten. Also auf allen Kanälen wird Kunst und Kreativität vermittelt, leicht zugänglich für jedermann.

Lifelong Learning

Ich habe schon immer gern gelernt, mich ständig weitergebildet. Deshalb liebe ich diese vielfältigen Möglichkeiten, die es heute gibt: schnell und niederschwellig Antworten zu finden, Neues zu entdecken, hinter die Kulissen zu schauen, in meinem Tempo zu lernen.

Ich weiß noch, wie toll ich es fand, Anfang 2020 das erste Mal an einem Kunstkurs online teilzunehmen. Kein Überlegen, welche Materialien und Leinwände ich in meinen Twingo quetsche, um dann vor Ort festzustellen, dass genau das, was ich brauche, noch im Atelier liegt. Keine Suche nach einer bezahlbaren Unterkunft. Keine Maskenpflicht. Und infolge der technischen Möglichkeiten gab es sogar erstaunlich viel Austausch.

Nachteile: Fokus und Zeit verlieren

Die Qualität der Angebote im Netz ist oft richtig gut, vieles ist mit Leidenschaft und Können gemacht. Und nicht wenig davon kostet mich nichts außer Zeit. 

  • Fokus: Doch genau das ist auch das Tückische. Bei der Suche nach einer Lösung für ein aktuelles Problem fallen mir Angebote ins Auge, nach deren Themen ich gar nicht gesucht habe. Aber die so spannend sind, dass sie auch direkt auf meine Liste der Dinge wandern, die ich noch ausprobieren möchte. Diese wird dann länger und länger. Gar nicht so einfach, bei all der Neugier den Fokus nicht zu verlieren. 
  • Zeit: Zudem ist es wichtig, an einer Sache länger dran zu bleiben. Ohne Übung entwickelt niemand sein Können, und Meister fallen eher selten vom Himmel. Auf der anderen Seite ruft im Hinterkopf oft eine Stimme, dass noch so viele andere Sachen aufs Ausprobieren warten. Dadurch wird es schwierig, sich auf nur ein Thema zu konzentrieren. Ein vielfältiges Angebot erzeugt möglicherweise mehr Stress oder auch die Angst, etwas zu verpassen (neudeutsch FOMO, also „fear of missing out“). Und auf der anderen Seite geht viel Zeit verloren, weil man ewig im Web nach neuen Inhalten sucht, oder vieles halbherzig anfängt und dann wieder sein lässt.

Können kann berühren, aber auch kaltlassen

Heute sind viele Menschen kreativ tätig, vermutlich viel mehr als noch vor wenigen Jahren. Es werden Bilder gemalt, Skulpturen geformt, Papiere geschnitten und gefaltet, Fotos und Videos aufgenommen. Im Hinblick auf all die positiven Effekte, die künstlerisches Schaffen für Körper und Psyche hat, ist das toll.

Ich stelle in letzter Zeit jedoch häufig fest, dass mir gerade bei den Bildern oft etwas fehlt. Vieles sieht ähnlich aus und lässt die Handschrift des Lehrenden erkennen. Anderes ist handwerklich perfekt und doch austauschbar. Wann also ist es gut, wann sogar Kunst? Diese Frage treibt mich intensiv um. Was fehlt? Warum macht mich die Bilderflut oft so müde?

Können zu bewerten, erscheint häufig einfach. Ob ein gemalter Apfel aussieht wie ein Apfel, ist leicht zu erkennen. Wissen anzuhäufen, eine Technik perfekt zu beherrschen, erzeugt jedoch nicht automatisch ein gutes Bild. Damit aus (Kunst)Handwerk Kunst wird, braucht es etwas Besonderes. Vielleicht eine Idee, einen neuen Blickwinkel, ein Geheimnis. Etwas, was mich ins Bild zieht und nicht mehr loslässt. Kunst benötigt etwas ganz Spezielles oder Individuelles.

Einen Apfel wiedererkennbar zu zeichnen, muss keine Kunst sein

Kunst braucht Seele

Was dieses Besondere sein könnte, ist mir kürzlich bei einem Facebook-Austausch klar geworden. Ich hatte den Link zu meiner aktuellen Werkschau auf YouTube gepostet, in der Hoffnung, dass sich ein paar der anderen Kreativen das Video anschauen und mir Feedback geben. Die Reaktionen haben mich umgehauen und tief berührt. Es waren weniger die Anmerkungen wie „schöne Kunst“, „tolles Video“, „ passende Musik“, auch wenn ich mich darüber gefreut habe. Sondern Kommentare wie:

  • „so berührend“
  • „poetisch“
  • „deine Kunst ist inspirierend“
  • „kraftvolles Video“
  • „das was am meisten bewegt, ist das zärtliche, persönliche Gefühl, das deine Bilder vermitteln“
  • „deine Arbeiten sind voller Seele“
  • oder aus einer Mail, die ich kürzlich erhielt: „Deine Kunstwerke sind alle mit so viel Kraft, Geist, Liebe und Hingabe geschaffen. Das macht letztendlich doch eine aussagekräftige, berührende Kunst aus.“

Diese Kommentar spiegeln, was aus meiner Sicht Kunst benötigt: eine Seele. Nur dann kann sie inspirierend, berührend, bewegend sein. Kann Assoziationen wecken, verführen, zum Immer-wieder-Hinschauen einladen. Ohne Seele weckt sie keine Gefühle.

Doch ein Kunstwerk bekommt nicht automatisch eine Seele, wenn es technisch perfekt ausgeführt ist. Sondern dann, wenn die Künstlerin es schafft, etwas von ihrem Ich, ihren Empfindungen, ihre Sicht auf das Leben einfließen zu lassen, wenn sie die Kunst zu ihrer Kunst macht. Wenn sie mit Leidenschaft arbeitet. Mich gibt es nur einmal auf der Welt, also kann es nur genau einen Menschen geben, der diese Art von Kunst macht. Das ist nicht anders als in der Musik. Eine unvollkommende Stimme, in der ich all die Emotionen des Sängers höre und spüre, die wahrhaftig klingt, spricht mich mehr an als eine technisch perfekte Stimme, die virtuos die Tonlagen wechselt, nicht jedoch die Art der Interpretation, egal bei welchem Musikstück.

Die Techniken zu beherrschen ist wichtig, um die Mittel zu haben, das auszudrücken, was ich möchte. Doch um Kunst zu schaffen, die berührt, muss ich mehr tun, als perfektes Können auf die Leinwand bringen. Ich muss mich auf die Leinwand transferieren, meine Gefühle, Erfahrungen, das, was mich ausmacht.

Das Ergebnis spricht nicht jeden an, so wie ich auch nicht jedem Menschen sympathisch bin. Aber es hat die Chance, überhaupt jemanden zu berühren, ganz tief innen. Dann kann es bei einem Menschen die Erinnerung an ein schönes Erlebnis wecken oder ein bestimmtes Gefühl anstoßen, ihn erfreuen, zur Ruhe bringen oder anregen.

Kunst kann berühren

Fazit

Ich werde weiter Kurse online und offline besuchen und mit Freude von denen lernen, die technisch perfekt sind. Doch gleichzeitig werde ich versuchen, angstfrei ganz bei mir zu bleiben. Ich sehe die Technik nur als Hilfsmittel wie eine Sprache, die Wissenschaft vermitteln, aber ebenso poetisch und emotional sein kann. Damit entwickelt sich automatisch meine Handschrift, mein Stil – egal wie unterschiedlich meine Techniken und Werke auch sind. Und es gelingt mir damit hoffentlich, Kunst mit Seele zu schaffen.


Zum kreativen Schaffen habe ich mir schon viele Gedanken gemacht. Hier eine Auswahl, die gut zum Thema passt:

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2 Kommentare

  1. Liebe Dagmar, tief in meiner Seele hat mich dein Text berührt. Mich als Frau, mich als Malerin, mich als Freundin. Du sprichst aus, was ich ähnlich denke, fühle, mich zum Handeln oder eben nicht tun veranlasst.
    Zwei Mal habe ich diesen Text schon gelesen und werde es sicher noch einmal tun um deinen Gedanken zu folgen. So wie ich deine Kunst auch öfter ansehen mag. Deine Bilder die mir etwas sagen, an verschiedenen Tagen zumal etwas anderes. Eben, beseelt, ansprechend, gelungen.
    Voller Freude bin ich über jeden neuen Text, jedes neue Bild von dir.

    Antworten
    • Liebe Christa,
      es ist ganz wunderbar, wenn meine Gedankenströme nicht nur fließen, sondern auch andere Menschen mit auf die Reise nehmen. Hab Dank aus tiefstem Herzen, dass du dir die Zeit genommen hast, um mir das zu spiegeln. Das ist auch eine Form der Bildung – Herzensbildung.

      Antworten

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