So ein Zufall – Aleatorik in der Kunst

von | 9. Juni 2023 | Kunstwissen

Zufall in der Kusnt: Materialbild, in dem der Zufall eine große Rolle spielt

Die Idee für diesen Text verdanke ich einem Zufall: In einer kürzlich besuchten Ausstellung lautete der Titel eines der wunderbaren Werke von Anne Hausner “aleatorisch”. Es zeigte Steine, wie zufällig zusammen liegend, eindrücklich mit Bleistift auf Papier gebannt. Eine Momentaufnahme für die Ewigkeit. Ich gebe zu, ich musste erstmal die Bedeutung des Wortes aleatorisch nachschlagen: zusammengewürfelt, also dem Zufall geschuldet. Asterix-Fans hätten es sich vielleicht zusammenreimen können, kennen sie doch “alea iacta est” als “die Würfel sind gefallen”.

  1. Der Zufall in der Kunst
  2. Aleatorische Verfahren
  3. Kunstschaffende, die mit Zufallstechniken arbei(te)ten
Materialsammlung, um Zufälle einzuladen

Aleatorische Verfahren gehören auch zu meinem Repertoire, auch wenn ich bisher nicht wusste, dass sie so heißen. Ich gebe dem Zufall Raum, um erste Zeichen auf die weiße Leinwand zu setzen, Spuren zu legen, Einschreibungen zu kreieren, auf die ich reagieren kann.

Als prozessorientierte Malerin ist der Zufall ein wichtiger Gast, um ein freudvolles Fest der Bildentstehung zu feiern. Er gibt mir Anregungen und öffnet Assoziationsfelder, führt mich auf unbekannte Pfade und damit zu ungeplanten Entdeckungen. Das Zufällige schult meine Fantasie, das assoziative Denken – so wie wenn ich in die Wolken schaue und immer wieder neue Tierwesen entdecke. Außerdem gibt der Zufall mir Freiheit, da ich ihm ein Stück meiner Verantwortung für das Entstehende überlassen kann, zumindest solange, bis ich auf ihn reagiere und wieder die Zügel in die Hand nehme.

Der Zufall in der Kunst

Wie weit der Zufall als Ideengeber in der Kunstgeschichte eine Rolle gespielt hat, lässt sich kaum klären, schließlich hört sich ein „Das habe ich so schaffen wollen“ besser an als „Das ist zufällig entstanden.“ Doch ich bin sicher, dass misslungene Zwischenstände oder zufällige Entdeckungen schon immer Kunstschaffenden Impulse gegeben haben. So wird erzählt, dass die berühmte David-Skulptur von Michelangelo ihren linken Arm nur deshalb so elegant anwinkelt, weil an dieser Stelle nicht genügen Material für eine übliche Lösung vorhanden war. Selbst in der prähistorische Höhlenmalerei wurde der Zufall integriert: Unebenheiten der Wände wurden immer mal wieder in Tiere verwandelt.

Risse im Asphalt und Pflanzen sehen aus wie eine Maus
Wer sieht die Maus auf dem Asphalt? Man muss nur genau Hinschauen…

Zufall gezielt einsetzen

Das gezielte Nutzen des Zufallsprinzips wird in der bildenden Kunst erstmalig im 18. Jahrhundert verortet. So verwendete der englische Zeichner Alexander Cozens Tintenkleckse als Ausgangspunkt und verwandelte diese durch Verziehen der Farbe in Landschaften. Er veröffentlichte 1785 sogar eine Publikation mit den Bildern unter dem Titel „A New Method of Assisting the Invention in Drawing Original Compositions in Landscape“. Auch der französische Schriftsteller Victor Hugo und der deutsche Arzt und Schriftsteller Justinus Kerner nutzen Tintenkleckse für kreative Tätigkeiten; die „Klecksografie“ Kerners fand später dann durch Rorschach als diagnostisches Verfahren Eingang in die Psychoanalyse.

Besonders intensiv und bewusst eingesetzt wurden Zufallsverfahren vor allem im Surrealismus, Informell und abstrakten Expressionismus Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Heute bedienen sich besonders viele der abstrakt arbeitenden Künstler:innen dieser Methoden.

Doch tatsächlich wurden die Vorteile des Zufalls in der Kunst bereits viel früher beschrieben:

  • So erzählt der römische Historiker und Schriftsteller Plinius, der Ältere in seiner Enzyklopädie “Naturalist historia” eine Geschichte über den berühmten griechischen Maler Photogenes, der im 4. Jhd. v. Christus lebte. Dieser wollte Schaum kreieren, der aus dem Maul eines bereits überzeugend gemalten Hundes triefen sollte. Der Speichel wollte ihm nicht gelingen, sodass er am Schluss wütend den Schwamm, mit dem er die missglückten Versuche tilgte, auf das Bild warf. Und hier lachte sich der Zufall ins Fäustchen: der Schwamm erzeugte genau den Schaum, der den Pinseln nicht entweichen wollte.
  • Leonardo da Vinci beschreibt in seinem „Traktat der Malerei“ um 1500, wie man sich durch das Betrachten von fleckigen Mauern, Feuer, Wolken oder Schlamm zu bildnerischen Ideen anregen lassen kann. Er empfand solche Dinge als Impulsgeber für „des Malers Geist“.
Mauern in verschiedenen Farben dienen zur Inspiration
Mauern zur Inspiration

Zufall in der Musik

Hier gibt es übrigens auch mal wieder Parallelen zur Musik. So ist die Aleatorik eine ergebnisoffene Kompositionsmethode der Modernen Musik, die in den 50er Jahren entwickelt wurde. Einer der Wegbereiter war John Cage. Und – welch Zufall – er kam bereits in einem meiner Blogartikel vor, in dem ich mich mit Stille beschäftige (und das, obwohl ich mich mit Zeitgenössischer Musik viel weniger anfreunden kann als mit Zeitgenössischer Kunst.)…

Aleatorische Verfahren

Etliche der Methoden benutze ich intuitiv seit Jahren und habe sie deshalb in meinem erst vor wenigen Wochen erstellten Guide gegen die Leinwandblockade aufgenommen. Erfunden habe ich sie allerdings nicht – sie wurden schon von bekannten Künstler:innen wie Max Ernst und Niki de Saint Phalle eingesetzt. Hier ein Überblick über die bekanntesten Zufallsverfahren in der Kunst.

drei kleine Bilder im Format 10×10 cm, die mit Aquarellfarbe und der Technik der Décalcomanie entstanden sind
„Träume“: Kleine Bilder (10×10 cm), die mit Aquarellfarbe und der Technik der Décalcomanie entstanden sind.

Décalcomanie (Abklatschtechnik)

Bei unseren Kindergeburtstagen waren sie jahrelang sehr beliebt: Abziehbilder, mit denen man mit Wasser und Schwamm ein temporäres Tattoo platzieren konnte – je nach Thema des Festes Totenköpfe, Ritterhelme oder Prinzessinnenglitzer (die als Folge von Aufregung und wackelndem Arm beim Übertragen oft zu neuen Formen mutierten). Und was tun mit den Farbresten auf der Palette? Eine Möglichkeit: Mit Papier, Holz oder Leinwand die feuchte Farbe abnehmen (und dann: trocknen lassen und die durch das “Abklatschen” entstandenen Strukturen als Grundlage für das nächste Bild nehmen).

Genau das ist das Prinzip der Décalcomanie: feuchte Farbe auf einen anderen Bildträger übertragen. Das was entsteht, ist nur zum Teil vorhersagbar, der Zufall ist also Teil des Kreativprozesses.

Ursprünglich wurde das Verfahren Ende des 18. Jahrhunderts erfunden, um Stiche und Drucke auf Keramik oder anderes Material zu übertragen, vermutlich von Simon François Ravenet. Er nannte seinen Prozess „Decalquer“, wohl inspiriert vom „Papier de Calque“, also der französischen Bezeichnung für Pauspapier. Etwa 150 Jahre lang wurde die Décalcomanie vor allem in der Porzellanherstellung benutzt, erst manuell, dann auch mechanisiert.

Als künstlerisches Ausdrucksmittel wurde die Methode im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entdeckt, zunächst vor allem von den Surrealisten. Der spanische Künstler Óscar Domínguez (1906–1958) arbeitete mit Gouache und sah das Übertragene bereits als eigenständiges Werk, der deutsche Künstler Max Ernst (1891–1976) dagegen nutzte die entstandenen Spuren und Formen als Ausgangspunkt für seine fantasievollen Bildwelten.

eine Ahornfrucht mit schöner Struktur
Auch solche Objekte aus der Natur können bei der Frottage wunderbare Strukturen ergeben.

Frottage (Durchreibeverfahren, Abreibeverfahren, Rubbeltechnik)

Der Begriff leitet sich vom französischen „frotter“, also „reiben“ ab. Grundidee ist, die Oberflächenstruktur eines Materials oder Objektes durch Abreiben auf ein anderes Material, meist Papier zu übertragen. In Ostasien, vor allem China wird bereits seit Jahrhunderten die Methode der „Steinabreibung“ verwendet, bei der eine Steinritzung oder ein Relief mittels Farbpigmenten auf Papier übertragen wird. So ließen sich zum Beispiel Texte oder Steinmetzarbeiten vervielfältigen, transportieren und archivieren.

Max Ernst hatte diese Methode um 1925 als künstlerisches Verfahren entdeckt. Die Idee war ihm wohl in einem Hotelzimmer in Pornic (Frankreich) beim Anschauen der Struktur des Parkettbodens gekommen. Er legte Papier auf und rieb die Rückseite mit einem weichen Bleistift an. So zeichneten sich die Holzstrukturen ab, die er dann weiterbearbeitete. Abgerieben werden können alle Materialien mit interessanten Strukturen, neben Holz zum Beispiel Stoffe und Netze, Steinplatten, Stroh, Gräser und Blätter, Münzen oder Legoplatten.

Frottage
Abrieb von einem Holzstück

Grattage (Abkratzverfahren)

Auch hier leitet sich der Begriff von einem französischen Wort ab, nämlich gratter = abkratzen. Bei dieser ebenfalls von Max Ernst erfundenen Technik wird in mehreren Schichten dick aufgetragene Farbe mit einem Spachtel oder einer Klinge wieder entfernt. Die Besonderheit dabei: Unter die Leinwand wird während des Abkratzens – wie bei der Frottage – Material mit Struktur gelegt, sodass deren Muster sich beim Abtragen zeigt.

Oft wird auch folgendes Verfahren als Grattage bezeichnet: Farbige Ölpastell- oder Wachsmalkreiden werden auf ein Papier aufgebracht und dann mit einer Schicht Schwarz überzogen. Diese wird anschließend durch Einritzung wieder partiell abgetragen, sodass die Farben durchscheinen. Allerdings fehlt bei dieser Methode streng genommen der Einsatz von Strukturmaterialien.

Décollage

Litfasssäulen und Plakatwände mit ihren übereinander geklebten und wieder abgerissenen Postern; Mauern, die mehrfach übermalt sind und von denen die Farbe zum Teil abgeblättert ist: Für mich haben solche Stellen oft eine einnehmende Ästhetik. Genauso funktioniert die Decollage (franz: décoller = abheben, trennen): Teile eines Werkes werden abgetragen, abgerissen, abgekratzt, um aus den freigelegten, oft überraschenden Ebenen wieder neue Gestaltungen zu entwickeln. Ich trage manchmal dicke Schichten mit Sandpapier oder sogar einem Schleifgerät wieder ab, auch das ist eine Form der Décollage. Die „Étrécissements“ des Surrealisten Marcel Mariën sind eine Sonderform, bei dem Teile des Bildes weggeschnitten werden.

Plakat an Zaun, zum Teil abgerissen. Zufällig Decollage
Fundstück an einem Zaun. Eine Décollage ganz ohne menschliches Zutun…

Fumage (Rauchmalerei)

Bei der Fumage werden mit dem Rauch/Ruß einer Kerze oder Petroleumlampe Spuren auf dem Bildträger erzeugt. Zugeschrieben wird das Verfahren dem Österreicher Wolfgang Paalen, der es Ende der 1930er Jahre entwickelte. Künstler, die damit arbeite(te)n, waren/sind zum Beispiel Salvador Dali, Yves Klein und Jiří Georg Dokoupil. Den französisch-kanadischen Künstler Steven Spazuk habe ich vor einigen Jahren zufällig entdeckt – er arbeitet meisterhaft mit dieser Technik.

Fumage. Werk "Nue" von Steven Spazuk aus dem Jahr 2007
Eine Fumage: „Nue“ von Steven Spazku aus dem Jahr 2007

Oszillation

Auch diese Methode wird Max Ernst zugeschrieben. Er hat dazu sogar eine genaue Anleitung veröffentlicht. In eine leere Konservendose wird ein kleines Loch gebohrt, am anderen Ende eine Schnur befestigt und Farbe eingefüllt. Die Dose wird dann über eine flach liegende Leinwand geschwungen und erzeugt tröpfelnde Farbspuren. Jackson Pollock soll sich von dieser Methode zu seinen Drip Paintings inspiriert lassen haben.

Sonstige

Die Möglichkeiten, den Zufall zum experimentellen Teil der Bildfindung zu machen, sind zahlreich – einzige Begrenzung ist die Fantasie. Deshalb hier nur eine kurze Aufzählung verschiedener Techniken:

  • Pustetechnik (mit einem Strohhalm Farbtropfen mittels Pusten verteilen)
  • Weitere Materialien hinzugeben und schauen, was passiert; etwa Alkohol, Seifenblasen, Rasierschaum, Spülmittel
  • Murmelbilder (Papier in eine Kiste legen, dazu eine in Farbe getauchte Murmel legen und die Kiste hin und her bewegen
  • Fadenbilder: In Farbe getränkte Fäden zwischen Papier legen und rausziehen
  • Klecks- und Tropfbilder
  • Salzauftrag: Streut man Salz auf die noch feuchte Farben, kommt es zu unplanbaren kristallinen Mustern („Ausblühungen“)
  • Materialdruck (Verfahren, bei dem unterschiedlichste Materialien wie Steine, Holzstücke, Kordeln, Nägel, Bleche, Draht etc. auf einer Druckplatte befestigt und auf weichem Papier abgedruckt werden), Monotypie (dazu habe ich einen ausführlichen Blogartikel geschrieben), Cyanotypie
Gezeichnete Schrauben
Ungewöhnliche Materialien können spannende und unerwartete Ergebnisse liefern, etwa bei der Frottage oder dem Materialdruck.

10 Kunstschaffende, die mit Zufallstechniken arbei(te)ten

Viele Künstlerinnen und Künstler nutzen während der Werkentstehung aleatorische Prinzipien, vor allem diejenigen, die prozessorientiert arbeiten. Trotzdem gibt es einige Namen, die ich erwähnen möchte, entweder, weil sie solche Verfahren erfunden bzw. salonfähig gemacht haben, oder weil sie ein wichtiges Element in ihrem Schaffen oder einer Schaffensphase waren.

Marcel Duchamps (1887–1968)

Sein Werk „3 Musterfäden“ (3 stoppages étalon) von 1913 gilt als eines der ersten, bei denen der Zufall bewusst Teil der Arbeit ist. Duchamps ließ drei gleich lange Fäden waagrecht aus einem Meter Höhe fallen. Die entstandenen zufälligen Formationen fixierte er zwischen Leinwand und Glas, zusätzlich fertigte er Holzlineale mit den Bewegungslinien. Duchamp bezeichnete das Entstandene als den „konservierten Zufall“, setzte den festen Normierungen zufällige Einheiten entgegen.

Kurt Schwitters (1887–1948)

Sein dem Dadaismus zugerechnetes Werk „Ohne Titel“ von 1920 entstand komplett nach dem Zufallsprinzip. Schwitters erhob eine kleine, zufällig ausgewählte Stelle eines Fehldrucks durch seine Signatur und das Datum zum Kunstwerk. Schwitters kreierte aus Abfall Collagen und Objekt und nannte sie „Merz-Arbeiten“. Der Name? Angeblich zufällig entstanden, nach dem Auseinanderschneiden von „Commerzbank“.

Hans Arp (1886–1966)

Ob der Maler, Grafiker, Bildhauer und Lyriker (und Mitbegründer des Dadaismus) wirklich Erfinder des bewusst genutzten aleatorischen Verfahrens ist, sei dahingestellt. Jedenfalls erzählt man sich, dass er 1917 ein misslungenes Bild zerrissen und auf den Boden geworfen hat. Die sich dort zufällig ergebene Komposition fand er so überzeugend, dass er sie als Collage fixierte und fortan mit solchen weiterarbeitete. Mich erinnert diese Geschichte ein wenig an Photogenes und seinen Schaum.

zufällige Collage aus Papierresten
Nicht von Hans Arp, sondern von mir. Zufallsbefund, als ich am praktischen Projekt meiner Masterarbeit saß.

Max Ernst (1891–1976)

Der Dadaist und Surrealist war aus meiner Sicht experimentierfreudig und innovativ wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit. Er gilt als Erfinder der Collage (auch hier mit einer passenden Geschichte, wie er diese zufällig in einem naturwissenschaftlich illustrierten Katalog erblickt hat), der Frottage und der Oszillation.

Diese und andere der oben genannten Techniken dienten seiner Neugier und Entdeckerlust. Sie ermöglichtem ihm, Zufall und bewusstes Eingreifen so in Balance zu bringen, dass seine Fantasie und sein Unterbewusstsein sich in seinen Bildwelten manifestieren konnten. Er sah Verfahren wie die Frottage wohl auch als Möglichkeit, die Angst vor der weißen Leinwand zu überbrücken und nannte sie deshalb nicht Zufallsverfahren, sondern “Befreiende Verfahren”. Berühmt sind seine Frottagen mit dem Titel “Histoire Naturelle” (Naturgeschichte) von 1926: 34 Darstellungen von bizarren Tieren, Blüten, Blättern und anderen Stücken aus der Natur.

Jackson Pollock (1912–1956)

Berühmt geworden ist der Vertreter des abstrakten Expressionismus mit seinen Drip Paintings. Dabei tropfte, spritzte, schüttete und schleuderte er spontan und gleichzeitig kontrolliert Farben aus Tuben und Dosen auf riesige, auf dem Boden liegende Leinwände. Zusätzliche Hilfsmittel zum berührungslosen Farbauftrag waren Stöcke, Spachtel und Lappen.

François Morellet (1926–2016)

Der französiche Vertreter der Konkreten Kunst Morellet arbeitet mit Zufallszahlen, zum Beispiel aus unendlichen Zahlenfolgen in der Mathematik oder aus Telefonbüchern. Diese nahm er als Grundlage für seine Linienbilder: schwarze Streifen, verteilt auf einer weißen Leinwand. So entstanden minimalistische abstrakt-geometrische Bilder.

Niki de Saint Phalle (1930–2002)

Anfang der 60-Jahre erregte die später für ihre lebensfrohen Nanas bekannte Künstlerin Aufsehen mit ihren „Schießbildern“. Sie befestigte auf dem Schrott gefundene Gegenstände und mit Farbe gefüllte Plastiktüten an einem Holzbrett und überzog das Ganze mit weißem Gips. Auf dieses Objekt schoss die Künstlerin. Die zufällig erzeugten Einschusslöcher brachten das Objekt durch Verletzung der Farbbeutel zum „Bluten“. Die Arbeit war für die Künstlerin wohl eine Befreiung von ihrer eigenen von Missbrauch geprägten Kindheit und eine Auseinandersetzung mit der Gewalt der Zeit und dem Patriarchat.

Gerhard Richter (*1932)

Viele seine Werke und Werkguppen räumen dem Zufall und der Reaktion des Malers darauf einen großen Raum ein. So malte Richter in den 1990er Jahren mit vielen Farbschichten, die er immer wieder partiell abtrug, um dann mit den Überraschungen weiterzuarbeiten. Auch die Rakelarbeiten oder Übermalungen von Fotografien haben ein ungeplantes Zufallselement. Über Jahrzehnte experimentierte er mit Farbflächen, deren Anordnung per Losverfahren festgelegt wurde, später dann mit Hilfe von Computeralgorithmen. So sind auch die Fenster im Kölner generiert.

Gerhard Richter Fenster im Kölner Dom
Von Gerhard Richter gestaltetes Fenster im Kölner Dom: 11.263 Farbquadrate in 72 Farben, angeordnet nach dem Zufallsprinzip

Daniel Spoerri (*1930)

Auch der Schweizer Künstler und Erfinder der Eat-Art, also der Kunst als essbares Objekt, lädt den Zufall in viele seiner Werke ein. Bekannt sind seine „Fallenbilder“, in denen Gegenständen in der Situation, in die er sie aufgefunden hat, auf einer zufällig bestimmten Unterlage befestigt werden.

Damien Hirst (*1965)

Der britische Aktions- und Installationskünstler und Vertreter der Young British Artists begann Anfang der 1990er Jahre „spin paintings“ (Drehbilder) zu erzeugen. Hirst entwickelte eine Maschine, die eine horizontal liegende, runde Leinwand dreht, während er Haushaltslack darauf schüttet. Je nach Drehgeschwindigkeit, Fließeigenschaft der Farbe und gewähltem Farbton entstehen nicht vorhersagbare schlierenartige Bilder. Die Weiterentwicklung von Hirst ist ein Filter in einer App, mit der jeder in einem virtuellen Raum seine eigenen Spin Paintings entstehen lassen kann.

Mittlerweile finden sich in der großen Welt des Internets zahlreiche Videos, die das Erstellen von Bildern mit ähnlichen Methoden zeigen.

Fazit

Der Zufall ist eine spannende Möglichkeit, die Fantasie anzukurbeln, frische Ideen zu entwickeln und neue Werke zu schaffen. Er hilft, Angst vor der weißen Leinwand zu überwinden und setzt spannende Prozesse in Gang. Doch Achtung: Einmal damit angefangen, sieht man nicht nur in den Wolken Wesen, sondern in den Mauern Landschaften und im Essen bizarre Welten. Das kann süchtig machen!

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Links

Quellen

  • Scheid, Harald: Zufall, Kausalität und Chaos in Alltag und Wissenschaft; BI-Taschenbuchverlag, Mannheim-Leipzig-Wien-Zürich, 1996, S. 25
  • Jehle, O.: Otto Stelzer – Zur Abstraktion vor der Abstraktion. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2010-7 (urn:nbn:de:0009-23-24853). https://www.kunstgeschichte-ejournal.net/kommentare/2010/jehle/, aufgerufen am 8.6.2023 
  • Eselböck, Alexander: „zugefallen und angenommen“ (Zufall als Methode im Unterricht), Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades „Mag.art.“ (Magister artium), Wien 2017; https://fedora.phaidra.bibliothek.uni-ak.ac.at/fedora/get/o:7875/bdef:Content/get aufgerufen am 8.6.2023 
  • Rosenberg, Raphael: Der Fleck zwischen Komposition und Zufall. Originalveröffentlichung in: Luckow, Dirk (Hrsg.): Augenkitzel – barocke Meisterwerke und die Kunst des Informel, Kunsthalle zu Kiel, 24. Januar bis 12. April 2004, Kiel, 2004, S. 41-45; https://d-nb.info/1204261288/34, aufgerufen am 8.6.2023
  • „Wenn du auf buntgefleckte Mauern oder auf buntgemischte Steine blickst, so kannst du dort, falls du irgendeine Gegend zu erfinden hast, Bilder von allerlei Landschaften sehen, die mit Bergen, Flüssen, Felsen, Bäumen, weiten Ebenen, Tälern und Hügeln in mannigfacher Weise ausgestattet sind. Du kannst auch dort allerhand Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden erblicken, ferner seltsame Gesichtszüge und Gewänder und unendlich viele Dinge, die du später in vollkommener und schöner Form wiedergeben kannst. Es ist mit solchen Mauern und Gemischen ähnlich wie mit dem Geläute der Glocken, denn in ihren Schlägen kannst du alle Namen und Worte hören, die du dir ausdenkst.“
    (Leonardo da Vinci: Grundsätze für den Schüler der Malerei, in „Die Notizbücher des Leonardo“, Hg. E. Dickens,  Ullstein Verlag, Berlin 2006, S.65)
  • Zufall oder Kunst? Zufall als Kunst!, in Frankfurter Rundschau über die Ausstellung „[un]erwartet. Die Kunst des Zufalls“ im Kunstmuseum Stuttgart (24.9.2016–19.2.2017, veröffentlicht am 22.09.2016, https://www.fr.de/ratgeber/medien/zufall-oder-kunst-zufall-als-kunst-zr-6775214.html, aufgerufen am 27.6.2023

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